Meine Punktwertung –

1. Fünf Punkte an »Birobidschan« von Tomer Dotan-Dreyfus.

Begründung: »Birobidschan« halte ich für den anspruchsvollsten und interessanterweise zugleich lesbarsten Roman. Die verschiedenen historischen Ebenen, Beziehungen und Realitätswelten greifen so kunstvoll ineinander, dass ein intuitives Portrait von einem exotischen Ort mit uns fremden Menschen in unbekannten Epochen entsteht. Dotan-Dreyfus’ tiefes Mitgefühl mit seinen Figuren ist im Buch spürbar und am Ende sogar explizit ausgedrückt. Das habe er nicht gewollt, entschuldigt sich der Erzähler bei den Toten und obwohl ich beim Vorwort skeptisch war (»der Text ist mein Labor und ich bin der Versuchsleiter«), ist der Epilog die rührende Geste eines Schöpfers, der seine Macht unterschätzt hat.

2. Drei Punkte an »Tunnel« von Grit Krüger.

Begründung: Ohne Larmoyanz und Sozialkitsch, aber mit genauer Beobachtung und scharfer Kritik entwickelt Grit Krüger Mascha und Tinkas Drama vor dem Hintergrund dessen, »was das Amt mit einem macht«. Die Welt des Romans ist eng wie sein Schauplatz und das Personal so wenig zugänglich wie die Unterwelt des Pflegeheims. Die geniale, symbolische Prämisse des Tunnels unterm System hat mich überzeugt.

3. Ein Punkt an Magdalena Saigers »Was ihr nicht seht oder die absolute Nutzlosigkeit des Mondes«. Begründung: Die Grundidee der Handlung fand ich faszinierend, nur die Umsetzung erzeugte den Eindruck des Fragmentarischen, des noch nicht in die Geschichte integrierten Materials. Dieser ungemein fleißig recherchierte Roman braucht fleißige Leser, denen es nichts ausmacht, Leerstellen zu füllen und Übergänge selbst zu schaffen.

4. Null Punkte für »Kaspar«. Begründung: Das freie Assoziieren eines unbestimmten/ unzuverlässigen Erzählers war mir genau das: zu unbestimmt und unzuverlässig. Wo ist die Aussage dieses, wenn man so will, Entwicklungsromans? Allerdings will ich Viktor Gallandi zugute halten, dass er witzig ist und ein wirklicher Sprachkünstler. Unvergessen die »Fanatiker, denen ihr Fanatismus abhanden gekommen ist« und denen der Erzähler Namen im Teletubby-Stil gibt. Das ist herrlich grotesk.

5. Null Punkte für »Zeiten der Langeweile« von Jenifer Becker. Begründung: Noch eine (Selbst-)Versuchsanordnung, die letztlich zu keinem greifbaren Ergebnis, keinem Urteil führt. Wir können nur vermuten, dass Mila ihren Versuch digital nicht mehr in Erscheinung zu treten, letztlich als gescheitert betrachtet. Die Figuren sind größtenteils so unsympathisch, depressiv und Ich-bezogen, dass es einfach keinen Spaß macht, zu irgendjemandem Empathie aufzubauen. Am allerwenigsten Mila, die mit ihrer Paranoia bei mir hauptsächlich Ungeduld ausgelöst hat.