Magdalena Saigers »Was ihr nicht seht« oder warum Kunst auch mal weg kann

Der Ich-Erzähler ist angewidert vom Kunstbetrieb: »Dass auf die Schönheit immer folgt, dass eure Blicke auf ihr umhertappen, grapschend und doch nichtig, und schon nach Worten suchen für irgendein Urteil, ein achtlos dahingesagtes Ach im Weitergehen und halb schon wieder auf der Suche nach einem Kaffeelatte, einem Klo oder einem Spiegel«. Oder einem Museumsshop, denn auf die Schönheit folge immer »der Markt, der nichtswürdige«.

Seine Konsequenz ist die Suche nach einem Ort zum Aussteigen aus der bisherigen städtischen Biografie. Mit vagen Vorstellungen macht er sich in der ostdeutschen Provinz auf die Suche nach dem Ort jenseits der Zivilisation, an dem »es Löwen gibt«, aber keine Menschen.

In einem aufgelassenen Braunkohle-Abbaugebiet findet er, was er sucht, nämlich eine »Halle, in der einst Drachen gehaust haben mussten.« Mit dem Ort wächst die Vorstellung von dem Kunstwerk, das er, geschützt vor jeglichem Publikum, schaffen will. Sein Werkstoff: Papier.

Damit beginnt eine wahrscheinlich in der Literatur noch nie dagewesene Rhapsodie auf die Facetten der geschöpften Zellulose, die wir täglich benutzen, ohne darüber nachzudenken. Wir lernen die Produkteigenschaften in langen Listen kennen: »- Bruchkraft – Biegesteifigkeit – Kantenstauchwiderstand – Ringstauchwiderstand« und das sind nur die mechanischen. Wie eine Meditation auf unseren Papier-Alltag nehmen sich die »Produktgruppen und Verwendung« aus: »- Grafische Papiere, Druckpapiere, Pressepapiere (→Bücher, Plakate, Poster, Kataloge, Kalender, Zeitungen, Zeitschriften, Magazine, Broschüren, Prospekte)- Schutzpapiere« und so weiter.

Der Künstler entscheidet sich für weißes Papier und natürlich ist es nicht einfach nur weiß. Er muss wählen zwischen: »„- Naturweiß – Cremeweiß – Altweiß – Gelblichweiß – Hellweiß/Hochweiß – Arctic Volume Highwhite – Arctic Volume Ivory – Arctic Volume White« Ich muss laut lachen, denn, wie schon beim Titelbild, denke ich an Yasmina Rezas Theaterstück »Kunst«, in dem drei Freunde über die Neuanschaffung eines Kunstwerks, einer weiß bemalten Leinwand, für mehr als hunderttausend Francs diskutieren. »Weiße Scheiße« lautet ein besonders vernichtender Kommentar zu dem Kauf.

Um dem Material Papier für sein Projekt, einem Riesen-Labyrinth, beizukommen, macht der Ich-Erzähler eine Art Fortbildung bei einer Papierkünstlerin, bei der er hospitieren darf. Von den Vorgängen, die beschrieben werden, hätte ich im Buch viel mehr erwartet, aber der Aufbau des Labyrinths wird später kaum noch geschildert. Schade eigentlich, denn die Ausbildung klingt spannend: »Sie sägte, riss, klebte, faltete, knitterte, knickte, presste [… 22 weitere aussagekräftige Verben] und ich folgte ihr demütig«.

Den Umgang mit Menschen hat der Ich-Erzähler in der Einsamkeit fast verlernt. Kontakt hat er nur mit einem kauzigen Besucher, den er Giacometti nennt und der sich einst geweigert hat, das Dorf zu verlassen, als es dem Braunkohleabbau weichen musste.

Als das fertige Labyrinth, das auch wir nicht zu Gesicht bekommen, fertig ist, zerstört er es voller Befriedigung nach weniger als 24 Stunden. »Im Vollbesitz seiner unausgekosteten Fülle« hat sein Kunstwerk bestanden, »unerkannt, unbewertet, unbesehen, ungeahnt«.

Die wilde Mischung verschiedener Details und Quellen – neben den technischen Eigenschaften von Papier gibt es auch eine Passage aus der Bhagavad Gita – ist keine leichte Lektüre. Erholung bietet, wie so oft, die Natur. Die Metaphern für das, was man im Namen der Industrie dem Wald antut, sind außergewöhnlich schön. »Hier hat sich die Abschaffung von Landschaft ereignet. Sie fällt aus, noch immer, die Wunde lässt die Erde hier anders altern.«

Magdalena Saiger, »Was ihr nicht seht oder die absolute Nutzlosigkeit des Mondes«, Roman, Edition Nautilus, 168 Seiten. Erschienen am 06.03.2023.