Tonio Schachingers »Echtzeitalter« ist mehr als nur Coming of Age –

Wer sich tatsächlich vorgenommen hat, den Youngster zu Heiligabend ein Stück weiter an Literatur heranzuführen, der sollte das tunlichst unterlassen oder aber wenigstens »Echtzeitalter« verschenken. Hier findet sich Identifikationsmaterial für männliche 15-Jährige mit Neigung zu Computerspielen (also 90%).

Hauptfigur Till will einfach nur jemand sein, der »zur Schule geht und irgendwann damit fertig ist«. Das ist ihm nicht vergönnt. Denn Klassenlehrer Dolinar ist einer jener Wiener »Wahnsinnigen mit bürgerlicher Fassade, die [… ] nie von hier wegziehen könnten, weil ihr menschenfeindliches Verhalten in keiner anderen Stadt so wenige Konsequenzen hätte«. Man erfährt also einiges über die österreichische Hauptstadt und gleichzeitig über die Phasen der Pubertät. Wobei Mädchen als große Stütze des Heranwachsenden zwar prominent vertreten sind, selbst aber hauptsächlich Pferde- und Parfümphasen haben.

Tills Doppelleben an einer Wiener Eliteschule nimmt Fahrt auf, als er sich von »Assassin’s Creed« zum komplexeren Strategiespiel »Age of Empires« vor- und zum Superstar der Szene hocharbeitet. Alles heimlich und umgeben von Erwachsenen, die keine Ahnung vom Gaming als Kunstform haben. Mich erinnerte die Lektüre an die Autofahrten, die ich als Zocker-Mom in den 2010er Jahren zur Gamescom nach Köln unternahm. Auf dem Rücksitz lümmelten Teenagern, die grüne oder blaue Bändchen (FSK 12 bzw.16) bekommen würden und deren Lebensziele noch überschaubar waren (irgendwo ein rotes herzubekommen).

Geht doch! Natürlich kann Schachinger als Gewinner des deutschen Buchpreises 2023 auch lächeln. Nur halt nicht so gerne bei der offiziellen Preisverleihung.

Wenn der Youngter den Roman dann erstmal höflich, aber bestimmt links liegen lässt, kann man über die Feiertage selbst darin lesen und sich an seine Schulzeit erinnern. Zum Beispiel an den Deutschunterricht. Wir hatten doch alle irgendwann mal einen Dolinar. »Die drei goldenen Regeln, nach denen er seine Klassenlektüre auswählt, lauten: nichts aus dem zwanzigsten Jahrhundert, keine Übersetzungen und nichts, was nicht als Reclamheft erhältlich ist.« Oder diese ehemaligen Mitschüler, die im Nachhinein die Schulzeit verklären. Zumindest nach den ersten paar Jahren hat Till für so welche ein klares Wort: »Spinnst du? […] Es war die Hölle, du Idiot!«

Tonio Schachinger, »Echtzeitalter«, Roman, 368 Seiten. Erschienen 14.3.2023.
Oder: Gesprochen von Johannes Nussbaum. Hörbuch ungekürzt. Argon Verlag. 12 Stunden. Erschienen am 31.3.23.