An Tag 3 geht es endlich aufs Buchmesse-Popup. Wie gut ist der Messe-Ersatz?

Samstag, 19. März 2022

»Besser als gar nichts«, lautet übereinstimmend der Tenor bei den Vertretern der unabhängigen Verlage, die ihre Tische in Halle A von Werk 2 aufgestellt haben. »Viel besser!«

Die improvisierte Messehalle erinnert mich auf den ersten Blick an die ersten Aldis in Ostberlin nach der Wende, nur dass diese voller waren. Das Hygiene-Konzept für die Pop-up (das sicherlich genauso für die »große« Messe funktioniert hätte,  ähem …) lässt nicht so viel Publikum zu, wie reingewollt hätte. Schon lange vor dem Start waren der Freitag und Samstag ausverkauft. Diejenigen, die ein Ticket für einen 2-stündigen Messerundgang ergattert haben, umlagern wie früher die Büchertische, blättern in Neuerscheinungen und unterhalten sich lebhaft in den Gängen. Autoren geben spontan Interviews, und die Mitarbeiterinnen sehen dem Treiben zu und strahlen unter ihren Masken.

Total entspannt im Hier und Jetzt

Katarina Wilts am Stand des Klett-Cotta Verlags (Foto: Isa Tschierschke)
Katharina Wilts am Stand des Klett-Cotta Verlags (Foto: Isa Tschierschke)

»Die Messe macht Spaß«, findet Katharina Wilts von Klett-Cotta und blickt unternehmungslustig über die Veranstaltungsfläche. Ob es in ihrem Verlag im Vorfeld Diskussionen über die Teilnahme an der Pop-up gab, möchte ich wissen. »Nein«, erwidert sie, »es war sofort klar, dass wir dabei sein werden«.

»Wir hatten keine großen Erwartungen«, berichtet Miriam Koruschowitz vom Hanser Verlag, »wir haben einfach improvisiert«. Das hat gut funktioniert.

Unerwartete Aktualität: Bücher beim Hanser Verlag (Foto: Isa Tschierschke)
Unerwartete Aktualität: Bücher beim Hanser Verlag (Foto: Isa Tschierschke)

Auf die Frage nach der Zufriedenheit mit der Organisation der Pop-up gibt es übereinstimmend Lob. Irgendwie sei das wie von selbst gelaufen, meint Joachim Burkhardt von Zweitausendeins, der direkt aus der Elternzeit auf die Messe gekommen ist und als Vertreter eines Leipziger Verlags den Heimvorteil der kurzen Anreise genießt: »Alles total unkompliziert.« Das ist doch das schönste Kompliment, das man jedweder Veranstaltung in dieser Zeit machen kann!

Lesungen als Anker

Joachim Burkhardt von Zweitausendeins (Foto: Isa Tschierschke)
Joachim Burkhardt von Zweitausendeins (Foto: Isa Tschierschke)

Dementsprechend betonen viele, wie verbindend die Pop-up-Messe als Treffpunkt wirkt als Hoffnungsschimmer für Autoren, Verlagsmitarbeiter und Publikum gleichermaßen. Anna Mandalke vom Orlanda-Verlag freut sich, dass sie die Kolleginnen aus anderen Städten wiedersieht und »endlich wieder Lesungen stattfinden können«. Dies sei für die Autorinnen und das Publikum gleichermaßen wichtig.

Ich verstehe, was sie meint, denn ich komme gerade aus der Orlanda-Lesung mit Dr. Zahide Özkan-Rashed.

Eine deutsch-türkische Erfolgsgeschichte

Dr. Zahide Özkan-Rashed (Foto: Isa Tschierschke)
Dr. Zahide Özkan-Rashed (Foto: Isa Tschierschke)

In »›Wir bleiben nur noch bis …‹: Aufwachsen zwischen zwei Kulturen« beschreibt Özkan-Rashed, Jahrgang 1962, ihren eigenen Werdegang als »Gastarbeiterkind« im Nachgang des deutsch-türkischen Anwerbeabkommens von 1961.

»Der sechzigste Jahrestag des Abkommens 2021 war wie ein Aufruf, mich zu Wort zu melden«, erklärt sie die Entstehungsgeschichte des Buches. Der Titel beziehe sich auf die zählebige Übereinkunft der Familie, in absehbarer Zeit zurück in die Türkei zu ziehen und ein kleines Häuschen am Meer zu bauen. Ein Zukunftsnarrativ, das sich »mit der erlebten Zeit immer um die fixe Größe von ein bis zwei Jahren in die Zukunft verschob«. Im Rückblick betrachtet Özken-Rashed ihr Aufwachsen wie das Leben auf einer Insel mit nur so viel Verbindung zum Festland, wie für diesen Traum nötig war. Mit Absicht hat sie für ihren Text die dritte Person gewählt, und das Mädchen, das sie selbst ist, heißt Feride. »Heute könnte ich auch in der Ich-Perspektive schreiben«, sagt sie, aber zu Beginn des Schreibens brauchte sie noch die Distanz zur Hauptfigur.

Veranstaltungsort neben Werk 2: Südbrause (Foto: Isa Tschierschke)
Veranstaltungsort neben Werk 2: Südbrause (Foto: Isa Tschierschke)

Im Gegensatz zu ihren Geschwistern schafft es Feride, die Herausforderungen des Schulsystems zu meistern und das Gymnasium zu besuchen. Zahide Özkan-Rashed ist heute Kardiologin in Frankfurt, aber die Erinnerung an die Schulzeit ist in ihr sehr lebendig. Daran, wie sie bei jeder Wortmeldung Herzklopfen bekam oder bei einem Kindergeburtstag abschätzige Bemerkungen über Türken und Muslime hörte und enttäuscht von ihren Klassenkameraden war.

Schreiben hilft!

Früh wendet sie sich ihrem Tagebuch zu und bald verfasst sie Essays, um sich selbst zu sortieren. Ihr Glaube und die innere Einkehr im Gebet helfen, aber mit Mitte 20 kommt trotzdem die Krise. Sie ist mitten im Medizinstudium und fühlt sich nicht mehr wohl mit der ungewissen Perspektive, in die Türkei zurückzukehren. Sie möchte ankommen, will von der Insel ans Festland.

Das hat sie heute längst geschafft und »Wir bleiben nur noch bis …« ist gerade in seiner Sachlichkeit und Präzision, aus der man die Naturwissenschaftlerin heraushört, ein rührendes Dokument von Dankbarkeit und Resilienz. Die Geschichte einer starken Mädchenpersönlichkeit und eine Zeitreise in die Siebziger, die ich, parallel zu ihr sozusagen, mit anderen Herausforderungen erlebt habe.

Zeitreise mit Eselin

Britta Jürgs vom Aviva Verlag und Übersetzerin Elvira Willems (Foto: Isa Tschierschke)
Britta Jürgs vom Aviva Verlag und Übersetzerin Elvira Willems (Foto: Isa Tschierschke)

»Der Weg verändert den Wanderer«, sagt Özkan-Rashed am Ende ihrer Lesung, und ich bleibe gleich sitzen, um die nächste Reise zu erleben: ins Irland des ausgehenden 19. Jahrhunderts. Britta Jürgs vom Aviva-Verlag stellt Elvira Willems vor, die einst über das Thema italienreisender Frauen im 19. Jahrhundert ihre Magisterarbeit schrieb und sich seitdem als Übersetzerin und Herausgeberin immer wieder mit dem Reisen beschäftigt. Auf einer Radtour durch Südengland entdeckte sie das Autorenduo Somerville & Ross in einem »Hardcover, das eigentlich zu schwer fürs Fahrrad war«, und seitdem blieb sie an den ungewöhnlichen Damen dran. Edith Somerville (1858-1949) und Violet Florence alias Martin Ross (1862-1915) waren Cousinen, die gemeinsam mit großem Erfolg Romane, Kurzgeschichten und Beiträge für Zeitungen und Zeitschriften schrieben – und eben Reiseberichte, wie »Durch Connemara. Mit dem Eselskarren in Irland« von 1893, das Willems erstmalig ins Deutsche übersetzt hat.

Wie ein Roadmovie

Als Elvira Willems aus ihrer Übersetzung liest, merkt man sofort, dass die beiden Autorinnen Humor haben. Bei einer slapstickartigen Passage über den Beginn der Reise, als Maultierstute Sibbie mit den Fahranfängerinnen durchgeht, lacht das Publikum laut. Die umwerfend elegante Sprache macht Spaß und ist das Ergebnis einer langjährigen Zusammenarbeit des Autorenduos und Willems‘ Übersetzerkunst natürlich.

Britta Jürgs möchte wissen, wie wir uns diese Kooperation genau vorzustellen haben. Willems berichtet, dass die beiden tatsächlich am selben Tisch die Texte erstellten, wobei Somerville schnelle umfangreiche Entwürfe verfasste, die Ross dann mit präzisen Notizen und Streichungen versah. Perfekte Synergie, aber die coolen Cousinen mussten diese Schreibkonferenzen von ihrer knappen Freizeit abzweigen und vor ihrer Familie möglichst verstecken.

Amüsement mit gesellschaftspolitischer Komponente

Willems merkte erst nach Beginn der Übersetzungsarbeit, wie viel Zeitgeschichte in dem amüsanten Reisebericht steckt. 1847/48 gibt es in Irland eine große Hungersnot, und am Ende des 19. Jahrhunderts geraten die Großgrundbesitzer, der irische Landadel, zunehmend unter Druck. Dazu der gälische Widerstand, der ganz subtil mit der Reise-Erzählung verwoben wird.

Als ich Britta Jürgs am Aviva-Stand noch einmal treffe, berichtet sie mir noch, wie nah Elvira Willems Somerville & Ross in puncto Abenteuerlust sei. Weil sie ihren noch kleinen Kater in Schleswig-Holstein nicht alleine lassen wollte, hat sie ihn kurzerhand in ihren Bully gepackt und die Nacht mit ihm auf einem Leipziger Campingplatz verbracht. Heute Morgen hatten wir sieben Grad! Eindrücke von der Reise und Fotos mit Katze im VW-Bus gibt’s im Blog von Elvira Willems.

Begegnungen, die uns gefehlt haben

Dieses Buch hat Bernardine Evaristo in Deutschland bekannt gemacht: »Mädchen, Frau etc.« (Foto: Isa Tschierschke)
Dieses Buch hat Bernardine Evaristo in Deutschland bekannt gemacht: »Mädchen, Frau etc.« (Foto: Isa Tschierschke)

In der Messehalle treffe ich auch Autorin Özkan-Rashed wieder, wo sie in Bernadine Evaristos »Manifesto –  Warum ich niemals aufgebe« blättert. Der Titel würde auch zu ihrem Leben passen. Wir setzen unser Gespräch über Identitätsfragen und Bildungschancen für Migranten fort. Als ehemalige Lehrerin möchte ich von ihr eine Einschätzung der Fortschritte in Sachen vertikale Mobilität an den deutschen Schulen in den letzten 50 Jahren hören. Sie hat mittlerweile zwei erwachsene Töchter, die ebenfalls das deutsche Schulsystem erfolgreich durchlaufen haben. Ich habe vor fast vierzig Jahren in Bayern Abitur gemacht – so weit ich mich erinnere ohne eine einzige migrantische Klassenkameradin. Dem dreigliedrigen preußischen Schulsystem aus dem 19. Jahrhundert und dem Primat des Gymnasiums, das vor allem in CDU/CSU-regierten Ländern ungebrochen ist, würde ich eine glatte »Setzen! Sechs!« geben. Dr.Özgan-Rashid aber, mit ihren positiven Erfahrungen aus dem progressiveren Hessen, bleibt sachlich, höflich und ausgewogen: »Es gibt sicherlich vieles, was noch verbessert werden könnte«, aber es habe sich seit ihrer eigenen Schulzeit auch schon »viel getan«.

Lieber Leipzig als Köln

Volle Halle, ausverkaufte Tickets. Die Pop-up kommt gut an. (Foto: Isa Tschierschke)
Volle Halle, ausverkaufte Tickets. Die Pop-up in Leipzig kommt gut an. (Foto: Isa Tschierschke)

Die Atmosphäre in Halle A hat definitiv auch etwas von Resilienz. Ein bisschen wie die Aufbruchstimmung in den ersten Aldis der Neunziger in Ost-Berlin (oder nennt man das jetzt »Zentralberlin«?)

Das Epizentrum der Bücherwelt ist in diesen Tagen für mich jedenfalls Leipzig, obwohl die LitCologne mir regelmäßig einen schicken Newsletter schickt und mich einlädt, doch nach Köln zu kommen. Aber das wäre kein Vergleich zum kreativen Connewitz-Flair! Ganz abgesehen davon, dass es in der Kölner Innenstadt niemals einen kostenlosen Parkplatz für Elvira Willems Kastenwagen mit Kater direkt vor dem Veranstaltungsort gäbe. So etwas gibt’s nur in Leipzig.