Anders Wallensten, Henrik Berggren und zwei Zufallsfunde –

Im Land der Nobelpreisverleihung, die jeden Herbst ihre Schatten vorauswirft, ist populärwissenschaftliche Literatur beliebt. Auf der Buchmesse erlebe ich aktuelle Beispiele aus den Bereichen Soziologie, Geschichte, Gesundheit und Evolutionsbiologie.

Sara Delshad, 33, Journalistin und Influencerin, spricht über ihr Buch »Muslimisk Feminist? Javisst« (Wörtlich: Muslimische Feministin? Na klar! Romanus&Selling, 1.3.23) und sieht insgesamt eine positive Entwicklung in der schwedischen Gesellschaft. Es gebe mehr Neugierde und Offenheit gegenüber muslimischen Frauen. Zwar seien auch bei denen psychische Erkrankungen auf dem Vormarsch, aber die Zukunft sei »hell«, verspricht Delshad.

Sara Delshad (rechts) im Gespräch mit Susanna Romanus

Muslimische Frauen könnten »als Individuum« noch mehr unterstützt werden, indem man einander zuhöre, sich kennenlerne und, vor allem, diskriminierende Dialoge unterbrechen helfe. Im Buch, von dem sie verspricht, dass es »leicht lesbar« sei, finde sich auch ein Kapitel über den Schleier, das die christliche Tradition des Schleiertragens mit beleuchte. Bei all dem sei ihr besonders wichtig zu betonen, dass muslimische Frauen »natürlich auch ihre Sexualität haben«. Aha.

Gesund und glücklich (für Reiche und Schöne) –

Ich wende mich der Naturwissenschaft zu und der »Forskartorget« (Forschermarktplatz) ist gut besucht. Anders Wallensten, 49, Arzt und Epidemiologe, stellt sein neues Buch »Livsgåtan« (wörtlich: das Rätsel des Lebens) vor. 2020 war er als damaliger Vize-Staatsepidemiologe ein Gesicht der ersten Corona-Pressekonferenzen an der Seite von Anders Tegnell, der den berühmten schwedischen Weg im Umgang mit der Pandemie verordnete. Da war das erste Buch des Arztes schon in der Pipeline und kam noch 2020 bei Bonnier Fakta heraus. »Hälsogåtan« (Rätsel der Gesundheit) ist der Titel und Wallensten propagiert, mit Blick auf unsere evolutionäre DNA, einen gesunden Lebensstil mit naturbelassenem Essen, viel Bewegung, guten Sozialbeziehungen und ausreichend Schlaf.

Anders Wallensten im Gespräch mit Linnea von Zweigbergk.#Forskartorget. Foto: I.Tschierschke

»Livsgåtan« als Nachfolgeband puzzelt an der Glücksformel und benennt die wesentlichen Variablen. Wallensten beleuchtet in seinem Vortrag viele Elemente eines glücklichen Lebens, nur nicht die auch in Deutschland gerne tabuisierte Tatsache der Klassenzugehörigkeit. Es ist offensichtlich, dass seine Bücher sich an die gehobene weiße Mittelschicht wenden und das würde auch funktionieren, wenn nicht gerade die im letzten Jahr selbst massiv unter Druck geraten wäre. Bei explosionsartig gestiegenen Lebensmittelpreisen, die in Schweden ausgerechnet die gesunden Lebensmittel, wie Obst und Gemüse, betreffen, ist es nicht so leicht, sich gesund zu ernähren. Das Gesundheitssystem ist, wie in Deutschland auch, völlig überlastet und in vielen Landstrichen ist die schnelle ärztliche Versorgung nicht mehr gewährleistet.

Wer sich außerdem über die alptraumhafte Vervierfachung seiner Stromrechnung Sorgen machen muss oder in wessen Wohnviertel jedes Wochenende Hauseingänge gesprengt werden, schläft vielleicht auch nicht mehr so gut. Da tut man sich am nächsten Tag gleich schwerer mit positivem Denken, laut Wallensten einem wichtigen Schlüssel zum Glück. Im Prinzip teile ich seine ganzheitliche Sicht auf Gesundheit und Glück, aber beim Thema stabile Beziehungen (»in der Gruppe sind wir stärker«) fällt mir ketzerischerweise ein, dass Clankriminalität so heißt, weil die Akteure extrem effektive Familiennetzwerke haben. Demgegenüber pflegen wir die Vereinzelung und die Oberflächlichkeit der sozialen Netzwerke. Oje!

Beim Signieren deute ich an, dass sich mir ein paar gesellschaftliche Fragen zum Thema Gesundheit aufgedrängt haben. Wallenstens Lächeln verschwindet und angesichts der langen Schlange sehe ich ein, dass ich sie an Ort und Stelle natürlich nicht beantwortet bekommen kann. Also schicke ich sie abends mit einer Mail an den Verlag. Die Reaktion der zuständigen Mitarbeiterin Linnea von Zweigbergk liest sich erwartungsgemäß. Meine Einwände seien natürlich »highly relevant«, heißt es da, »However the target group Mr Wallenstens book is aiming for is one where we don’t think these questions appears [sic] to a higher degree«. Auf gut Deutsch: Die Reichen und Schönen in Schweden müssen sich keine Sorgen machen um die Niederungen von verarmender Mittelschicht und kollabierenden Krankenhäusern.

»That might sound harsh, but unfortunately we can only reach out and sell books to a market that will buy books«. Der zynische Mechanismus, dass bei wachsendem ökonomischen Druck immer weniger Menschen Zeit und Energie finden, ein Buch zur Hand zu nehmen (ganz zu schweigen von den exorbitanten Preisen für Hardcover), gibt ihr leider Recht. Dennoch wäre die Buchmesse als DAS Kulturevent am Beginn des Lesewinters die beste Gelegenheit, auf die sich rasant ändernden Lebensbedingungen eben jener Zielgruppe einzugehen und einige Aussagen zu aktualisieren. Sogar Staatschef Kristersson, 59, (von der Partei »Moderaterna«) griff vergangene Woche angesichts der Straßengewalt zum Äußersten: einer Rede an die Nation.

Stattdessen weht mich mit der Messeluft jeden Tag eine Atmosphäre fröhlicher Verdrängung an. Als ob wir nicht längst gelernt hätten, dass falsch verstandenes positives Denken, also immer so zu tun, als sei alles großartig, vor allem eines macht: krank.

Ekel –

Während ich auf Wallensten warte, gerate ich in einen Vortrag über Ekel und seine Instrumentalisierung in politischen Kampagnen. Es lebe der Buchmesse-Zufall! Patrik Lindenfors’ Vorstellung von »Äckel: smitta, synd, samhälle« (wörtlich: Ekel: Ansteckung, Sünde, Gesellschaft, Ordfront, 5.6.23) ist unterhaltsam und erhellend. Die Verknüpfung anthropologischer Konstanten mit literarischen Mitteln ist seit dem Studium mein Hobby und oft kann man Romane auf anthropologischer Grundlage lesen.

Lindenfors, 59, unterscheidet als Evolutionsbiologe das Gefühl vom kulturell-moralischen Zusammenhang. Letzterer nutzt Ekel als Waffe, um bestimmte Bevölkerungsgruppen zu entmenschlichen. Das kennt man aus der deutschen Geschichte. Der Autor illustriert den Mechanismus mit dem berüchtigten »Schamlose Weinhure«-Zitat von Jimmi Åkesson, 44, Chef der rechtsnationalen »Sverige Demokraterna« im Mai diesen Jahres. Es richtet sich gegen Dragkünstler:innen, die Grundschüler:innen vorlesen und Lindenfors erklärt an diesem Beispiel die Verknüpfung von öffentlichem Ekel, sexuellen Inhalten und Kindern.

Konservative ekeln sich übrigens schneller als Progressive, Frauen häufiger als Männer. Ekel als kollektives Gefühl gibt Auskunft über Zivilisiertheit und Hygienestandards einer Gesellschaft und drückt sich oft in der Angst vor Ansteckung aus. Lindenfors nennt ein Experiment, bei dem Proband:innen eine Jacke nicht anziehen wollten, als sie erfuhren, dass sie Hitler gehört haben soll. Für mich als Leserin gibt es den aktuellen Anknüpfungspunkt des Ekels vor Insekten als Proteinquelle. In »Blue Skies« von T.C.Boyle kann man ausführlich in dieses Thema einsteigen

Der Schwede an sich –

Foto: Henrik Berggren im Gespräch mit Cecilia Kerstell

Henrik Berggren laufe ich ständig über den Weg, was bedeuten muss, dass sowohl er, als auch ich fleißig sind. Einst hatte er mir, im Verbund mit Lars Trägårdh, geholfen, die Schweden besser zu verstehen (umgekehrt funktioniert das leider noch nicht so gut). »Ist der Schwede ein Mensch?« (übersetzt von Susanne Dahlmann, btb, 2016) heißt der vielbeachtete Titel, der die Besonderheiten Schwedens aus soziogischer Sicht beleuchtet.

Berggren, 66, hat sich aber auch als Journalist und Biograf von Olof Palme und Dag Hammarskjöld einen Namen gemacht und ist auf der Buchmesse, um den letzten Band seiner Trilogie »Landet utanför« (Wörtlich: Das Land außen vor, Norstedts, erscheint 26.12.23) über Schwedens Rolle im Zweiten Weltkrieg vorzustellen.

Der Anteil der Journalist:innen in Schwedens Schriftstellerschaft ist auffällig. So betont Berggren auf der »SkrivaScenen« (Bühne für Schreibende) die Bedeutung der Forschung als Quelle für Fiktion. Das leuchtet mir ein. Gerade in Verbindung mit wissenschaftlichen Erkenntnissen wird deutlich: Auch in Göteborg gibt es nichts Spannenderes als den Menschen.