Donnerstag, 17. März 2022

Nun also wieder mal Leipzig. Seit der Buchmesse 2018 bin ich das erste Mal wieder hier. Aus Erfahrung weiß ich, dass jede Reise, jeder Aufenthalt in einer anderen Stadt bei mir immer unter einem besonderen Motto steht, das ich manchmal erst in der Rückschau erkennen kann. Bei Leipzig 2022 weiß ich jetzt schon, was das Motto sein wird: die Zeitreise.

Tom-Jones-Plakat, dahinter die Lesungen
Tom-Jones-Plakat, dahinter die Lesungen

Lesungstermine hinter Tom Jones

Begrüßt werde ich von einem VerLesungstermine hinter Tom Jonesanstaltungshinweis auf einer Litfaßsäule: »Tom Jones« wird angekündigt. Tom Jones ist für mich ein VIP der Kategorie »Ich dachte, der sei schon tot«. Nein, nein, er fühlt sich offensichtlich lebendig genug für eine Tournee und höchstens etwas »surrounded by time«. Tom Jones wird also im August Halle rocken, und Leipzig freut sich jetzt schon. Ich gehe um die Litfaßsäule herum und finde auch ein kleines unübersichtliches Plakat mit Lesungsterminen. Es scheint mir nicht vollständig zu sein und vielleicht ist das schon ein Hinweis auf das Problem der Verantwortungszerfledderung bei dieser Messe, die eigentlich keine ist. Vielleicht fehlt der »Messeschirm«, vielleicht ist es aber auch nur die Heterogenität der Leipziger Kulturlandschaft. Das kann ich als Touristin schlecht einschätzen.

»Wo seid ihr denn alle?«

Was ich allerdings vergleichen kann ist, wie viel bzw. wenig in der Stadt »gefühlt« los ist. Immerhin ist Leipzig nun schon mehrere Jahre in Folge »Zuwachsspitzenreiter« bei den bundesweiten Einwohnerzahlen. Doch schon als ich am Mittwoch zur Rushhour über die Hauptverkehrsstraßen mitten hineinfahre, denke ich mir: »Wo sind denn alle?« Es ist leer – sogar in der Straßenbahn, in der ich früher immer stehen musste und die besten Literaturgespräche belauscht habe. Kaum ein Dutzend Fahrgäste gibt es auf meiner ersten Fahrt in die Innenstadt und es ist sehr still.

Vor ein paar Jahren habe ich in das Geschnatter hinein mal gefragt, warum ich so wenig Sächsisch höre und bekam erklärt, dass alle versuchen, Hochdeutsch zu reden, weil das eben der Bildungsstandard sei. Könnte das nicht mal jemand den Stuttgartern sagen?, dachte ich damals. Jetzt redet niemand.

Neue Marketingwege der Öffis

In meine Gedanken hinein kommt plötzlich die Ansage: »Polster-und-Pohl-Reisen« und dann den Namen der Haltestelle. Den habe ich vergessen, aber die Werbung habe ich mir gemerkt. Den Slot für den »Felsenkeller« hat die Praxis »Zahnärzte im Leipziger Westen« gebucht. Wie clever. In Zeiten klammer Kassen muss man eben bei den Öffis neue Marketingwege gehen.

Beim Aussteigen gibt es dann diese Durchsage: »Es war uns eine Freude, euch auch heute wieder an eure Ziele bringen zu dürfen. Bitte achtet beim Aussteigen auf eure persönlichen Gegenstände.«

Ich fühle mich ertappt, denn ich vergesse auch schnell mal was, aber dieses vertrauliche Du von der Computerstimme ist mir unangenehm. So als ob Mutti mich ermahnt, nicht wieder meinen Kram liegen zu lassen. Die Straßenbahnstimme gibt mir das Gefühl, dass ich in den letzten vier Jahren richtig viel älter geworden bin.

Abgelaufen: Kaffee
Abgelaufen: Kaffee

Unterschätzer Kaffeeverbrauch

Ich habe eine Altbau-Wohnung in Connewitz über Airbnb gebucht, und als ich ankomme, darf ich mich gleich stärken. Der Kaffee, den ich im 40er-Jahre-Küchenschrank finde, hat ein Haltbarkeitsdatum von 2019. »Da hat ja Castro noch gelebt«, denke ich (Stimmt nicht, zumindest Fidel ist 2016 schon gestorben). Im Flur stehen zwei hundertjährige Pfaff-Nähmaschinen samt Tischchen, auf denen ich aber nichts abstellen kann, weil dort, wie überall in der Wohnung verstreut kleine Bücherstapel liegen – wohl als Reminiszenz an meinen Reisegrund und Leipzig als Lesestadt. Deswegen gibt es wohl auch keinen Fernseher. Ich kann sowieso noch nicht ablegen, denn es gibt keine Garderobe, keine Kleiderstange, keine Kleiderbügel. Den Castro-Kaffee kann ich nicht zubereiten, weil es keine Kaffeemaschine gibt. Schließlich finde ich eine Bodum-Kolbenkanne im Mini-Format. Mein Gastgeber hat meinen Kaffeeverbrauch grotesk unterschätzt. Es gibt stattdessen jede Menge mit Edelsteinen versetztes Wasser in Karaffen. In einer befinden sich gleich Rosenquarz, Bergkristall und Amethyst zusammen auf einem großen Haufen – wohl um jedes Dosha abzudecken. Dann kann ja nichts mehr schiefgehen. Willkommen im hippen Connewitz.

Erste Lesung am Ende der Polarnacht

Ich beginne Donnerstag Abend mit einer wunderbaren Lesung in einem genialen Veranstaltungsort hier in Connewitz: dem UT, dem ältesten noch erhaltenen »Lichtspielhaus« Deutschlands von 1912.

Die drei Norwegerinnen, die lesen, sind schon einmal eine Entdeckung: Marie Aubert (»Kann ich mit zu dir?«. Storys, Rowohlt Hundert Augen), Heidi Sævareid (»Am Ende der Polarnacht«, Insel) und Ida Lødemel Tvedt mit »Tiefseetauchen« (Kommode Verlag). Helga Flatland (»Zuunterst immer Wolle«, Weidle) ist leider nicht da.

Marie Aubert und die dolmetschende Moderatorin Elke Ranzinger lesen aus »Entschuldigung, Entschuldigung, Entschuldigung« von einem ganz normalen Morgen eines Vollzeit-Angestellten/ Teilzeit-Vaters mit Teilzeit-Tochter. Als Journalistin beobachtet Aubert Menschen und ihre Verhaltensweisen präzise und lässt sie dann unter ihren Grenzerfahrungen leiden. In dieser Geschichte ist es die Scham über eine Ohrfeige, die den Vater umtreibt. »Wer leidet mehr? Der, der verletzt worden ist oder der, der verletzt?«, fragt Ranzinger. Aubert dazu: »Mich interessiert, wie sich die Figur unter dem Druck der Scham verändert«. Die Entwicklung, von der sie schreibt, ist auf jeden Fall schon einmal interessant und so wandert »Kann ich mit zu dir?« als erste Buch-Neuerwerbung dieser Messe in meinen Rucksack.

Bei »Am Ende der Polarnacht« hingegen zögern meine Sitznachbarin und ich gleichermaßen mit dem Kauf. Während ich überlege, dass der Roman genau in mein Leipzig-Motto »Zeitreise« passt, hat sie sich schon entschieden. »Das ist mir dann doch zu heftig«, sagt sie und meint damit wohl die Angst vor dem Set-up des Romans. Spitzbergen in den 50er-Jahren. Ein Paar ist über Monate miteinander und der kleinen Bewohnerschaft des Dorfes eingeschlossen, bis es wieder hell wird. »Jetzt kommt der Tag« ist aber nicht die Ankündigung der Erlösung im Roman, sondern damit gehen die Probleme in der Beziehung erst richtig los. »Das neue Licht bringt auch sehr viel Hässliches an den Tag«, begründet Sævareid diese gegenläufige Struktur zum normalen, fröhlichen Frühlingserwachen. Manche Menschen könnten das Licht erst einmal gar nicht ertragen, erklärt sie. Sie würden »frühlingskrank«. Wir staunen. Sowas gibt’s wohl nur ganz im Norden!

Wie sehr die fordernde, extreme Natur Norwegens den Menschen formt, kann man auch bei Ida Lødemel Tved erfahren, die lange in New York lebte, aber für den Beginn von »Tiefseetauchen« an die Stätten ihrer Kindheit in Oslo zurückkehrt.

»Kind zu sein ist wie auf einer Party mit lauter Nüchternen die Einzige zu sein, die trinkt«, hat sie beobachtet und »Deshalb müssen wir später ständig von dieser Kindheit berichten«. Sie bedient sich dafür der Essayform und vergleicht diese mit einem »Schleppnetz der Erinnerung«, in dem eben auch Schrott hängenbleibe. »Schleppnetz« heißt auch der erste Essay, aus dem sie liest, und wir folgen ihr über die Spielplätze Oslos und an die Ufer des Fjords, der so klares Wasser hat, dass man »die Makrelen in einem kollektiven epileptischen Anfall« beobachten kann.

Als wir in die Dunkelheit hinausgehen und meine neue Bekannte die Straßenbahn ins Hotel nimmt, entsteht wieder so etwas wie ein Buchmesse-Gefühl von früher. Morgen liest Leipzig weiter.