Plötzlich sind alle nackt. Noch letzte Woche war ich auf diesem Weg in der Mittagspause unterwegs und die Blätter leuchteten gelb bis dunkelrot dort, wo sie hingehören, nämlich an den Ästen der Bäume im Arboretum. Das ist der botanische Garten hinter unserem Apartment-Haus. 

Einzig mein Ginkgo ist belaubt wie zuvor – wenn auch etwas angegilbt. So wie er im Mai immer der Letzte ist, dem die Blätter sprießen, denkt er gar nicht daran, sie jetzt schon wieder abzuwerfen. So wie er Anfang des Jahres zu sagen scheint: „Macht ihr mal euer Frühlingsding, ich bin noch nicht so weit”, lautet sein weithin sichtbares Statement jetzt: „Wartet nicht auf mich, mir ist noch so spätsommerlich.” 

Es gibt im schwedischen Teil Lapplands Birken, die Mitte Oktober mit leuchtend grünem Blätterwerk im Schnee stehen. Sie kommen aus den südlichen Landesteilen und haben einfach ein anderes genetisches Programm. Da, wo mein Ginkgo herkommt, stehen die ehemaligen Nachbarn jetzt eben auch noch grün-gelb herum.

Ich gehe wie immer hinter seinen Stamm und drei Stöße mit meinem rechten Handballen sagen ihm, dass ich da bin. Seine Rinde ist trocken und rissig und fühlt sich wie Eiche an, aber er ist viel dünner. Wenn auch nicht mehr ganz so spillerig wie noch vor drei Jahren als er mein Patenbaum wurde. Wenn ich ihn umschlinge, kann ich mich selbst immer noch mit in den Arm nehmen.

Ein paar Meter weiter oben rauscht der Novemberwind und der Stamm gibt sein unsichtbares Schwanken an mein Brustbein weiter. Es ist völlig klar, wer hier wen hält. Denn als ich ihn loslasse und ein paar Schritte rückwärts laufe, bin ich es, die schwankt. Ihm hingegen sieht man keine Bewegung an.

Sein Stamm hat eine kleine Ausbuchtung nach rechts, so als ob er beim Wachsen irgendetwas ausgewichen wäre. Diese einzige Krümmung in seiner ansonsten geraden Gestalt ist – proportional gesehen – genau dort, wo meine Lendenwirbelsäule ihre Skoliose hat, ebenfalls nach rechts. Woher weiß man bei einem Baum überhaupt, wo rechts und links, vorne und hinten ist? 

Wir Baumpaten haben das im Gefühl, denn wir erkennen uns in den Bäumen, die wir ausgesucht haben.

Die schamanisch ausgebildete Yogalehrerin im 4. Stock bevorzugt die uralte Linde, die das Ordnungsamt schon zweimal abholzen wollte, weil Pilzbefall den Stamm gespalten hat. Es besteht Lebensgefahr für diejenigen, die unter ihren jahrhundertealten Ästen meditieren. Beim letzten Sturm im Januar wurde sie großräumig mit Stahlzäunen und Flatterband abgesperrt. Nach dem Sturm hatte es diese Absperrungen komplett zerlegt und Stücke des rot-weißen Bandes flatterten hoch in den hundert Meter entfernten Pappeln. Die – völlig unbeschadete – Linde wurde mit einem zierlichen Stahlseil gesichert und ist seitdem wieder zur Meditation freigegeben.

„Kein Baum für Männer“ urteilt Heinrich aus der höchsten, der siebten, Etage unseres Hauses. Er ist dieses Jahr 80 geworden und für ihn kommt natürlich nur eine Eiche in Frage. Er selbst ähnelt eher einem Haselnussstrauch: klein und sehnig, mit dünnem grauen Pferdeschwanz und nie stillhaltenden hellblauen Augen. Er taucht mal hier mal dort auf und schaltet sich in Gespräche ein oder auch mal auf stur („tut mir leid, Hörgeräte vergessen“).

Er beschreibt mir „seine“ Eiche und ich frage: „Doch nicht die mit der improvisierten Tingstätte?“ Ein verdächtiger Sitzkreis vor einer Eiche mit einer Feuerstelle in der Mitte war neulich von der Polizei als möglicher Nazi-Versammlungsort zerstört worden. Die Frage ist Heinrich unangenehm, er wechselt schnell das Thema und belehrt mich über das Schlafbe­dürfnis von Bäumen. „Drei Stöße zur Begrüßung sind ja ´ne nette Spielerei, aber jetzt im Winter lässt du das besser sein. Da will der Baum seine Ruhe haben. Der spürt dich sowieso von Weitem kommen wegen der Vibration deiner Schritte.“ Aha. Ich werde meine Aufdringlichkeit überdenken. Alles hat schließlich seine Zeit.