Bernhard Schlinks »Das späte Leben« –

Martin hat nicht mehr lange zu leben, eröffnet ihm sein Arzt, Bauchspeicheldrüsenkrebs. Um nicht enttäuscht zu sein, wenn es am Ende fürs prognostizierte halbe Jahr Lebenszeit nicht reichen sollte, gibt sich Martin, abzüglich der »schlechten Zeit«, wenn er ins Hospiz gehen wird, 12 »gute Wochen«. Dass solche Schätzungen, egal, ob sie nun optimistisch oder vorsichtshalber pessimistisch formuliert sind, die Tendenz haben, sich zu bewahrheiten, zeigt sich auch in seinem Fall.

Außerdem gibt es in »Das späte Leben« auch unfreiwillige Einblicke in unser Gesundheitssystem. Als Privatpatient und emeritierter Professor genießt der Todkranke immerhin das Privileg ausgedehnter Koryphäen-Sprechstunden und Facharzt-Terminabsprachen in Rekordzeit. Auch vor dem Tod sind wir hierzulande eben keineswegs alle gleich.

Ulla, Martins sehr viel jüngere Frau, Mutter des gemeinsamen, erst sechsjährigen, Sohns Daniel, schwankt zwischen (Selbst-)Mitleid und Pragmatismus. Zwischen der Liebe zu Martin und dem Wunsch, die Wochen mit ihm noch auszukosten und der Vorsorge für die Zeit danach, inklusive eines Liebhabers, der Martins Nachfolger werden könnte.

Ulla macht ihrem Mann den Vorschlag, seinem Sohn eine Videobotschaft für später zu hinterlassen mit Dingen, die er ihm gerne erklärt hätte. Wie man sich rasiert zum Beispiel. Martins Medium ist aber eher der Text und so beginnt er Notizen für seinen Sohn zu machen, die er den »Rasierbrief« nennt.

Im Zeitraffer durchlebt er alle Phasen der Trauer um das eigene Leben. Nach einer kurzen Phase der Verdrängung beginnt er zu gestalten. Inklusive seine Nachfolge. Schon sehr geschwächt schleppt er sich zu seinem über zwanzig Jahre jüngeren Nebenbuhler, um auch in dieser Situation noch die Kontrolle zu behalten. »Was ich von Ihnen will? Wissen, ob Sie Ulla lieben. Ob Sie Kinder mögen.« Ehefrau Ulla bemerkt die Übergriffe aus dem nahen Jenseits und wehrt sich dagegen. Und so verläuft der Abschiedsmarathon nicht ohne Ehe-Konflikte.

Im Umgang mit seinem Kind vertritt Martin aufgesetzte Akzeptanz. Er sei »müdekrank«, gesteht er, und das Sterben erklärt er dem Sechsjährigen so: »ich gehe um die Ecke und finde die Tür.«

Was das Buch zu einem ausgesprochen männlichen macht, ist, dass Martins Manneskraft in jedem Kapitel als Messlatte für die noch verbliebene Lebenskraft herhalten muss. Dass der (gelungene) Beischlaf betulich-bieder immer nur angedeutet wird (»sie nahm ihn zu sich«) hat mich schon beim alternden Siegfried Lenz genervt, der z.B. in »Schweigeminute« nur noch ein Kopfkissen mit zwei Abdrücken darin schilderte, um den Akt als geschehen zu bekunden.

Eine letzte Reise ans Meer markiert den Beginn von Martins echter Akzeptanz, die dann endlich auch von Weinen begleitet ist. Und natürlich von den Büchern seines Lebens. »Wenn seine Tränen flossen, kam ihm eine Zeile von Heinrich Heine in den Sinn, und ihm war nicht anders, als ob sein Herz recht angenehm verblute.«

Bernhard Schlink, »Das späte Leben«, Roman, Diogenes, 240 Seiten. Erschienen am 13.12.2023. Cover:NetGalley