Sabine Bodes Roman »Geschwister im Gegenlicht« –

Sonja ist erschöpft und braucht eine Auszeit. Sie mietet sich ein etwas muffiges Ferienhaus an der Ostsee außerhalb der Saison. Bereit für ausgedehnte einsame Strandspaziergänge, die ihr nach dem Tod ihres Mannes und anderer Zumutungen Herz und Hirn durchpusten werden, wird sie vom Besuch ihres Bruders überrascht. Die beiden sind sich nicht nah, waren es nie, auch nicht als Kinder. Wie zwei Aliens von verschiedenen Planeten gehen sie miteinander um, wenn sich Begegnungen ergeben, z.B. zur Beerdigung des Vaters. Man kennt sich »ohne sich zu kennen«.

Sonjas Bruder Rolf, fünf Jahre älter als sie, noch während des Krieges im heutigen Polen geboren, hat wegen seiner kürzlich gescheiterten Ehe einen neuen Anlass, sich mit seiner Vergangenheit auseinander zu setzen. Sonja hat das schon sehr früh für sich kategorisch abgelehnt (»Familie – nein danke«) und den Kontakt zur Mutter abgebrochen. Die nächste Generation repräsentiert Nina, Rolfs Tochter, 13, die ihn im VW-Bulli an die Ostsee begleitet und sich auf Anhieb gut mit ihrer Tante Sonja versteht. Auch Nina hat Probleme und ist von der Schule geflogen, obwohl sie, wie Sonja findet, ein völlig normaler Teenager ist.

Sabine Bode hat mit ihren Sachbüchern zu Kriegskindern und Kriegsenkeln in Deutschland wesentlich dazu beigetragen, das wissenschaftlich mittlerweile gut erforschte Phänomen der transgenerationellen Traumata mit Inhalten zu füllen und, Jahrzehnte nach den Weltkriegen, in die Mitte der gesellschaftlichen Wahrnehmung zu rücken. Babyboomer, die sich einbildeten, dass sie nichts mit NS-Verbrechen »zu tun« haben, kamen ins Grübeln und fingen an, in ihrer Verwandtschaft zu forschen, inwiefern Opfer- und Tätertum sich womöglich auch auf ihr Leben auswirken.

Im Roman »Geschwister im Gegenlicht« leistet Rolf diesen Impuls für Sonja und endlich entstehen die Gespräche, die früher eingefroren waren. Die gemeinsame Einsicht, dass ihre Mutter die Bezeichnung »sadistisch« verdient, führt sie nicht nur dazu, genauer nachzuforschen und Zeugen zu befragen, sondern die alte Frau mit ihren Taten zu konfrontieren. Als Euthanasie-Schwester im NS-Regime hatte sie mitgeholfen, körperlich oder geistig behinderte Menschen zu töten und erwartungsgemäß zeigt sie keine Reue. Jemand habe diese Arbeit doch tun müssen, man würde ja sehen, was heute so alles rumliefe. Sie hält sich allen Ernstes zugute, ihren Opfern einen Gefallen getan zu haben und an dem Punkt wünsche ich mir diese Figur weniger scherenschnittartig und geschickter literarisch verpackt.

Die gruselige Logik der Täter von damals ist bekannt und immer wieder schockierend, aber die Eins-zu-Eins Demonstration dieser Haltung reicht noch nicht für einen Roman. Ebenfalls etwas flach geraten ist der Vater, auch überzeugter Nazi, der allerdings gegen Ende des Lebens doch mit Skrupeln zu kämpfen hat. Die Empörung darüber, dass Leute wie Rolf und Sonjas Eltern unbehelligt in der BRD leben konnte, scheint etwas zu sein, dass die Autorin nicht den eigenen Schlussfolgerungen der Leserinnen überantworten möchte. Sie scheint sicherstellen zu wollen, dass die Message ankommt, daher wirkt sie an diesem Punkt zu grob gestrickt.

Übrigens ist mir das gleiche Manko an »The Zone of Interest« aufgefallen, ein Film,der keine wirkliche Geschichte erzählt und keinen dramaturgischen Bogen hat. Das international hochgelobte Werk ist eine Aneinanderreihung schauspielerisch starker Szenen, die immer nur auf eine Botschaft hinauslaufen: »Guckt mal, wie erschreckend normal diese Menschenmonster privat waren.« Das reicht mir nicht. Das wusste ich längst.

Viel interessanter ist da das produktive Happy-End in der Geschwisterbeziehung von Sonja und Rolf. »Das bist doch du«, erklärt Rolf, als er Sonja ein selbst gemaltes Bild von ihr als Baby schenkt, das er im Elternhaus (im Meisenweg) gefunden hat. Der große Bruder hilft der kleinen Schwester die Leerstellen zu füllen, von denen sie nicht wusste, dass sie auch ihr Leben blockierten. »Ein guter Tag geht zu Ende.«

Sabine Bode, »Geschwister im Gegenlicht«, Roman, Hörbuch, ungekürzt. Gesprochen von Hemma Michel, USM Audio, 9 Stunden 34 Minuten. Erschienen am 19.08.2023. Cover:Net Galley.