»Birobidschan« ist auch mein persönlicher Gewinner von »Das Debüt« –

Ein jüdisches Schtetl, einst von Stalin gegründetes autonomes Oblast an der sibirischen Grenze zu China, ist derjenige von den vielen »Lost Places« auf der Shortlist, der mir bei Lesen am nächsten war. Wie die Bewohner kollektiv wirtschaften und nach jüdischen Traditionen leben, erinnert an ein Kibbuz.

Tomer Dotan-Dreyfus kombiniert an diesem Schauplatz gleich drei Zeitebenen. Ein Handlungsstrang findet in den Dreißigern statt, als der Fischer Boris noch ein Kind ist und zum ersten Mal den Kragenbär und ein fremdes Mädchen sieht und merkt, dass niemand ihm glaubt. Eine andere Geschichte dreht sich Jahre später um Sascha und Gregory auf einem Roadtrip nach Tunguska, dem seltsamen Ort im Land der Ewanken, mehrere Tagesreisen entfernt, an dem 1908 ein Komet niederging – oder auch nicht.

Auf der dritten Erzählebene ist der uralte Fischer Boris inzwischen einem rätselhaften Verbrechen zum Opfer gefallen. Gregorys Sohn Joel macht sich heimlich mit Rachel, der Jugendliebe seines Halbbruders Alex, aus dessen Perspektive erzählt wird, im Auto auf den Weg, um ein seltsames, stummes Mädchen fort zu bringen, das plötzlich in Birobidschan aufgetaucht ist.

Durch die drei Generationen schleichen derselbe Kragenbär, den Boris einst als Kind gesehen hat, dieselben Wölfe, die nur Dmitrij zu sehen scheint und zwei Männer im weißen Kleinwagen, die viele Fragen stellen und von denen niemand weiß, wo sie herkommen und was sie in Birobidschan wollen. Aber man weiß sofort, dass sie Unglück bringen werden.

»Birobidschan« halte ich für den anspruchsvollsten und interessanterweise zugleich lesbarsten Roman der Shortlist. »Magischer Realismus« war mir als Label zuvor sehr abstrakt, aber in dieser Geschichte greifen die verschiedenen historischen Ebenen, Beziehungen und Realitätswelten so kunstvoll ineinander, dass ein intuitives Portrait von einem exotischen Ort entsteht.

Dotan-Dreyfus’ tiefes Mitgefühl mit seinen Figuren ist im Buch spürbar und am Ende sogar explizit ausgedrückt. Das habe er nicht gewollt, entschuldigt sich der Autor bei den Toten und obwohl ich beim Vorwort skeptisch war (»der Text ist mein Labor und ich bin der Versuchsleiter«), ist der Epilog die rührende Geste eines Schöpfers, der seine Macht unterschätzt hat.

Tomer Dotan-Dreyfus, »Birobidschan«, Roman, Verlag Voland&Quist, 320 Seiten. Erschienen am 20.02.23.