»Keen Problem«, lächelt der Busfahrer. Ich halte ihm einen Zwanzigmarkschein hin, darauf gefasst, wieder aussteigen zu müssen. Wer für einen Berliner Doppeldeckerfahrschein kein abgezähltes Kleingeld bereithält, muß wechseln gehen und auf den nächsten Bus war­ten. Doch der 100er ist keine nor­male Linie und der Fahrer womöglich gar kein echter Berli­ner Busfahrer, denn die lächeln nie. 

Für die Touristenschneise zwischen Bahnhof Zoologischer Garten und Alexander­platz, zwischen Zentrum West und Zen­trum Ost also, hat sich die Berliner Verkehrsgesell­schaft (BVG) etwas völlig Innovatives einfallen las­sen: freundli­ches Personal. Manfred Müller heißt das bemerkenswerte Ex­emplar, das mir anstandslos Ticket und Wechselgeld aushän­digt. 56 Jahre ist er alt und seit 33 Jahren bei der BVG. „Jerne“, wie er versichert. Ob es bei den vielen Touristen nicht zu Stresssituationen komme, möchte ich von ihm wis­sen. 

„Schon“, räumt er ein, „die kommen hier an und stehen da wie neu. Ick mach´ die erstmal ´rin, Tür zu und wech“. Der nächste 100er kommt nämlich in Spitzenzeiten gleich auf Sichtweite hinterher und für lange Diskussionen mit den Zu­gestiegenen ist keine Zeit. Wer die Tarife nicht durch­schaut oder keine DM zur Hand hat, der wird auch schon mal umsonst mitgenom­men.

Müller ist Teil einer Imagekampagne der BVG, die darum be­müht ist, ihren Ruf als größtes Berliner Serviceunternehmen aufzumö­beln . 

„Die Linie 100 ist als Erlebnis- und Aus­flugsbus konzi­piert. Damit stehen wir im Wett­bewerb mit den privaten An­bietern“, erklärt BVG-Pressesprecher Ulrich Mohneke.

„Da kommt nur ein bestimmter Mitarbeiterkreis in Frage“. Eine „angenehme äußere Erscheinung“ und typisch Berliner Herz und Schnauze sollen die Fahrer haben. Letztere mög­lichst noch mehr­sprachig. 

„English?“ Müller strahlt, „yes, a little, unsereins war ja ooch schon mal in Flo­rida, wa? Schön isses da – und den Amis verdanken wir ja so viel“. 

Die Kongresshalle zum Beispiel, an der er jetzt hält. 1957 von der Benjamin-Franklin-Stiftung direkt an die Sektoren­grenze gebaut, sollte sie weithin sichtbar als Signal für die Freiheit der Völker wirken. Die bedeutungs­schwangere Auster ist, obwohl weder schön noch stabil (1980 teilweise eingestürzt), eine Hauptattraktion auf Manfred Müllers Bus­route. Heute beherbergt sie einen gewagten doppelten Genitiv, nämlich das „Haus der Kulturen der Welt“ und so füllt sich an dieser Haltestelle der Bus mit Bildungsreisenden. Eine holländi­sche Familie steigt zu und verhandelt laustark Sitzplätze, bei der deutschen neben mir wird gar nicht erst diskutiert.

„Der Babba muss ans Fen­schter, der hat den Fodoabbarad.“ Höchste Zeit für ihn, denn der Reichstag kommt in Sicht. Hier steigen die Deutsche(n) – Einheit(s) – Tou­risten zu, auf der Suche nach Haupt­stadtgefühl und parlamentarischer Demokratie zum Anfas­sen. 

Doch statt erkennbarer Zeichen für den Hauptstadtumzug tobt im zukünftigen Regie­rungsviertel das Geschäft mit der Illu­sion. Zur Auswahl stehen ein „europäisches Mittelalterspek­takel“ unter dem Motto „die Finstere Nacht“, Zirkus Roncal­li , der Mongolische Staatszirkus und ein Gauklerfest vor dem Kronprinzessinnenpalais. Im Innern des Reichstags, dort, wo in Zukunft die deutschen Volksvertreter tagen wer­den, erwarten den politisch interessierten Besucher „Visio­nen aus dem Inferno“ – eine Gemäldeausstellung.

Auch für Staatsbesuche ist gerade Sommerpause. Ein Glück für meine Mitreisen­den, denn deshalb ist „das Tor“ heute für alle offen. Fast alle. Auf dem großzügigen Areal am Ende der Straße des 17. Juni herrschte noch vor zwei Jahren friedliche Koexistenz von Radfah­rern, Taxis, Videoamateuren und illegal Gewerbetreibenden. Heute fighten hier Mountain­bikekuriere, händerringende Schupos und der 100er um die Benutzung einer einspurigen Fahrrinne. 

„Platz vor dem Brandenburger Tor“ heißt harmlos dieses Er­gebnis bürger­feindlicher Verkehrsplanung. Auf den neuge­schaffenen Verkehrsinseln drängeln sich desorientierte Berlin-Besucher, denen trotz frisch installierter Fußgän­gerampeln die Angst vor dem Hauptstadtverkehr ins Gesicht ge­schrieben steht. 100er-Fahrgäste haben es da verhältnis­mäßig sicher. Manfred Müller chauf­fiert mit Schwung und 15 Zentimetern links und rechts den großen Gelben durch die schmale Pforte. 

„Mit meinem Bus legt sich eben keener an, nich mal ´ne Taxe“. 

Hinter dem Brandenburger Tor ist die Straßenführung dann wieder Interpretationssa­che. Hier am Pariser Platz ist sie noch intakt, die Wen­de-Idylle mit wilden Ständen für NVA-Abzeichen, sibirien­taugliche Pelzmützen und – Mauersteinen (den echten, mit „Zertifikat“ und Stempel). Wird man je erfahren, wieviele Köpenicker und Pankower Gartenmäuerchen zu Ehren des 9.No­vember ´dran glauben mußten? Die teuer­sten Objekte haben rostige Spuren im Beton, erfahre ich von meiner sloweni­schen Mitfahre­rin, „Stacheldraht, you know“. Sanja Neskovic aus Lubljana ist 26 und Balletttänzerin. Zum Pergamonmuseum will sie, Hamburg hat sie schon „gemacht“ und heute fährt sie noch nach Wien. Berlin findet sie auf meine Frage hin „interesting“ und lächelt höflich. Richtige Begeisterung kommt erst auf, als wir auf das öffentliche Nahverkehrsnetz der Stadt zu spre­chen kommen. 

„So practical“, schwärmt sie, niemand brauche in dieser Stadt ein Auto.

In der Tat lassen immer mehr Berliner ihren eigenen Wagen stehen. 1993 transpor­tierte die BVG 1 Milliarde und 20,5 Millionen sogenannter Unternehmensbeförderungsfälle (kurz: UBF, d.h. Fahrgäste auf dem Gesamt­netz). Täglich kommen  3,5 Millionen Menschen in Berlins Bussen, S- und U-Bahnen zusammen. Auf Schiffen und Bussen allein tummelten sich im vergangenen Jahr 498,7 Millionen Betriebszweigsbeförde­rungsfälle (BBF). 

Für all diese sind die FahrerInnen erste Ansprechpartner, wenn es Ärger mit Fahrpreis­erhöhungen, Taktverlängerungen oder Strei­chungen ganzer Linien geht. „Da fängt eener an und sofort brubbeln alle mit“, erklärt Müller, während ein bunter Pulk zugestiegener US-Kids auf ihn einredet.

„Da musste immer freundlich bleiben“. Die Amerikaner werden in diesem Sinne auf Englisch abgefertigt. Mit ihren Bauch­beuteln und Backpacks turnen sie die  Treppe hoch und schaukeln händchen­klam­mernd und deklamierend („Look at THAT, Honey!“) mit in Richtung Alexanderplatz. 

Die deutsche Familie zu meiner Rech­ten ist unter­dessen still geworden. Seinen Fensterplatz benutzt der Vater,  um in regel­mäßigen Abstän­den nach Hinweisen auf unsere Positi­on in der großstädtischen Topo­graphie zu blinzeln. Ansons­ten kämpft er mit einem Stadtplan (dem mit der Patentfal­tung). Völlig unvermittelt dann an der Staatsoper sein Si­gnal zum Aufbruch. Frau und Kinder vor sich herschiebend („Babba, was solln wir hier?“) macht er kur­zerhand seine Familie in sengen­der Hitze wieder zu Fußgängern.

Am Alexanderplatz wird es schlagartig leer. Hier beginnt endgültig der Osten. Im Schatten von Kaufhof wird im „Mes­semarkt Ost“ eingekauft, Oberkörper in weißen Ripp-Unter­hemden lehnen sich zwischen Geranien und Graffiti aus den Plattenbaureihen der Hans-Beimler-Straße. Kein Tourist ist zu sehen. Jeder Platten-Balkon ist anders gestaltet: mit glitzernder Synthetik verhangen, hellblau oder orange gestrichen, holzverkleidet oder gekachelt. Kaum hat der 100er diese andere Welt erreicht, wird gewen­det. Dies ist schließlich eine „Besucherlinie“. 

Auf der Rückfahrt bekannte Stimmen. Die amerikanischen Tee­nis von der Hinfahrt entdecken das Logo einer amerikani­schen Knei­pen-Kette: „WOW! Look, a TGI!“. TGI heißt „Thank God it´s Friday“ und da kein deutscher Gastwirt je auf die Idee gekommen wäre, sein Restaurant „Gott sei Dank ist es Freitag“ zu nennen, sind die Berliner den Amis wohl auch weiterhin zu Dank verpflichtet. Immerhin ist aus dem be­nachbarten DDR-Fischrestaurant namens „Gastmahl des Meeres“ schon ein „Nordsee“ geworden und aus „Das Interna­tionale Buch“ eine schlichte „UB“ (für „Universitätsbuchhandlung“) – angenehm neu­tral im Verhältnis zu „Zungenkuß“, der neues­ten geschmacklosen Kneipengründung in der Fernsehturmge­gend. Wie ein Kommentar wirkt da ein Transparent auf der anderen Stra­ßen­seite, mit dem die Marienkirche für eine Aus­stellung über Mutter Teresa wirbt: „Die Armut des Wes­tens“ verkündet es.

Zwanzig Busminuten später kommt Manfred Müllers letzte Durchsage: „Endstation: Zoologischer Garten“. Wie die Pri­maten hundert Meter entfernt, baumeln die Fahrgäste er­schöpft in ihren Halteschlaufen. „Are you o.k., Honey?“. Betriebszweigsbeför­derungsfall Honey ist offenbar schlecht gewor­den. Die Wandzeitung am Ku´damm-Eck zeigt 35 Grad. 

Als ich in den 129er (Kreuzberg/ Oranienplatz) einsteige, reicht je­mand hinter mir der Fahrerin einen Zehnmark­schein. Keine Chance auf dieser Linie. Er muß aussteigen, wechseln gehen und auf den näch­sten Bus warten.