»Ich hatte das Gefühl, so viel mehr verloren zu haben als meinen Vater«. Im Kulturzeit-Gespräch auf 3sat am 28.Nov.23 beschreibt Daniel Schreiber, wie es dazu kam, dass er seinen eigenen Verlust mit dem gesellschaftlichen Wegbrechen von Gewissheiten verknüpft. Ausgerechnet die persönliche Trauer könne dabei helfen, gesellschaftliche Verzweiflung zu heilen. Bei der von Martina Sulner moderierten Lesung im Literaturhaus Hannover erklärt er, warum Venedig der Schauplatz für sein neuestes Buch wurde. Die Stadt sei ein Freiluftmuseum, eine Opernkulisse, die sich seit dem 18. Jahrhundert kaum verändert hat und gleichzeitig auch Symbol für die Bedrohung ist: Wir werden untergehen.
Schreiber, der mit »Nüchtern«, »Zuhause« und »Allein« die literarische Form des Personal Essay auf die Bestsellerlisten bringt, hat sich seinem eigenen Trauerprozess schreibend gestellt. Und herausgefunden, dass private Trauer und allgemeine Endzeitstimmung ähnliche psychische Prozesse sind. Zuerst könnten wir die Tragweite des Verlustes nicht erfassen und lebten eine Zeitlang in der Verdrängung. Irgendwann werde aber der Schmerz und die Energie, die für Verdrängung aufgewendet werden muss, so groß, dass es Zeit wird sich seiner Trauer zu stellen. In Schreibers Fall bestand die Verdrängung nach dem Tod seines Vaters in permanenter Arbeit, die ihn trotz völliger Erschöpfung irgendwann auch seinen Schlaf kostete.
»Fehlende psychische Intaktheit«, wie Schreiber die frische Trauer nennt, erleben wir massiv auf der gesellschaftlichen Ebene. Vieles, das wir für selbstverständlich gehalten haben, bricht weg. Seine (und meine) Generation betrauert den Verlust demokratischer Strukturen und die bisherigen Normen des gesellschaftlichen Austauschs, die mittlerweile durch Social Media ausgehebelt werden. Die Jüngeren betrauern, sozusagen pro-aktiv, den Verlust ihrer Zukunftschancen und Lebensgrundlagen aufgrund des Klimawandels.
In der ersten Phase der Trauer gelingt es dem Trauernden kaum, sich mit anderen zu verbinden. Zu individuell ist die Verlusterfahrung, sie muss zunächst mit sich selbst ausgemacht werden. Viele Trauerrituale kreisen um die Weigerung zu trauern. So werden, bemerkt Schreiber, die vielen hunderttausend Coronatoten öffentlich nie erwähnt, sie sind fürs Erste aus unserem kollektiven Gedächtnis gestrichen. Ebenso die Überschwemmungstoten im Ahrtal. Die Klimakrise sei eine konkrete Bedrohung, die wir aber verdrängen, weil wir überfordert sind.
»Wann und wie weicht sich die Verdrängung auf?«, fragt Martina Sulner nach.
»In dem Moment der Erkenntnis, dass man gerade verdrängt, wird die Auflösung der Blockade eingeleitet«, antwortet Schreiber. So entstünden wieder neue Gestaltungsmöglichkeiten. Im 3-sat Interview wünscht er sich, dass die Lesenden in »Zeit der Verluste« eine Form von neuer Zuversicht findet.
»Was hat dir in der ersten Zeit der Trauer Trost gegeben?«, fragt Sulner. »Nicht viel« ist die ehrliche Antwort.
»Irgendwann setzte die Dankbarkeit wieder ein. Gerade hier und am Leben zu sein.« Die Psyche leistet das, auch wenn sich die objektive Lage der Welt nicht verbessert hat: »Das nächste Ende der Welt wartet schon.«
Daniel Schreiber, »Die Zeit der Verluste«, Hanser Berlin, 144 Seiten, erschienen am 20.11.23.
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