Die Story vom Pferd ist mein Buch des Jahres –

Elizabeth macht ihr Geld mit Plazebos. Sie verabreicht vom Leben und der Liebe enttäuschten ü40-Patientinnen gut gemachte Narrative, die ihnen zusammen mit völlig wirkungslosen Medikamenten untergejubelt werden. Die Frauen wissen gar nicht, dass sie eigentlich nur Probantinnen für die Plazebo-Forschung sind und freuen sich über die phänomenale Wirkung der Pillen.

Elizabeths Vorgehensweise kopiert die Methode, die alle Lifestyle-Unternehmen dieser Tage perfektioniert haben: sie analysiert ihre Zielgruppe in mehreren Gesprächsrunden und verwandelt dann deren Sehnsüchte in Heilsversprechen.

Dumm nur, dass der einzige Weg, über Leid hinwegzukommen, auch im 21. Jahrhundert noch mitten hindurch führt. Die einzig richtige Lösung ist also das Gegenteil von dem, was die clevere Leidvermeidungsindustrie uns weismachen will.

Deren Angebote versprechen mehr Attraktivität, mehr Energie und gesteigerte Durchsetzungsfähigkeit, um uns noch effektiver funktionieren zu lassen in den Lebens- und v.a. Arbeitszusammenhängen, die uns überhaupt erst krank gemacht haben. Sie bedienen die Ängste einer ökonomisch und spirituell in Bedrängnis geratenen Mittelklasse, die nach jedem Strohhalm greift, um ihrer Sorgen Herr zu werden. Sorgen, mit denen Hunderte von Konzernen ein Vermögen machen und ganze Wellness-Imperien schaffen.

Elizabeth ist seit über 20 Jahren mit Jack verheiratet und »Wellness« ist die Geschichte seiner Häutung. Die beiden stecken in einer Midlife-Ehekrise fest und über weite Strecken des Romans sieht es so aus, als ob sich ihre Wege trennen werden.

Jack hat bisher eine Überlebensstrategie in der Kunst gefunden. Er versteckt sein Trauma in abstrakten Fotografien und stellt sich ihm erst, als er zur Beerdigung seines Vaters zurück in die Prairielandschaft seiner Kindheit fährt. Sein Mut und die Zeit, die er investiert, wird damit belohnt, dass er die letzte Zwiebelhaut auch noch loswird.

Als er wieder auftaucht, steht die Frage im Raum: »Wärst du jemals imstande, jemand so Kaputten, so Erbärmlichen wie mich zu lieben?« Das ist mein Lieblingssatz im Lieblingsbuch 2024. Denn Fitnessstudios, Hypno-Therapien oder »gesunde« Ernährung erscheinen neben einer solchen Transformation als das, was sie wirklich sind: hilflose Ablenkungsmanöver für Seelen, die sich partout Schuld und Scham nicht stellen wollen.

Elizabeth, die nicht auf ihre eigenen Plazebos zurückgreifen kann, weil sie ja um deren Wirkungslosigkeit weiß, muss durch ihre eigenen Prozesse. Und obwohl die weniger umwälzend wirken als Jacks, kann die Leserin sich am Ende der Geschichte gut vorstellen, was Elizabeth auf »Wärst du jemals imstande […]?« antwortet, jetzt, da sie um etliche Illusionen und Wunschvorstellungen ärmer ist. »Völlig unmöglich, aber wenn es Eine gibt, die es hinbekommt, dann bin ich das.«

Nathan Hill, »Wellness« aus dem Amerikanischen Englisch übersetzt von Dirk van Gunsteren und Stephan Kleiner, Roman, Piper, 736 Seiten. Erschienen am 02.01.2024.

Nathan Hill, »Wellness«, Roman, ungekürztes Hörbuch, Uve Teschner (Sprecher); Dirk van Gunsteren und Stephan Kleiner (Übersetzung), Osterwoldaudio, 21 Stunden 10 Minuten. Erschienen am 02.01. 2024.

Als ich den Roman fertig gelesen hatte, überkam mich ein seltsamer Phantom-Trennungsschmerz

Hier meine ursprüngliche Rezension vom 07.05.2024 auf Literaturcafé.de

Mein Buch des Jahres 2023 war »Die Details« von Ia Genberg.