Luca Kiesers krakenartiges »Weil da war etwas im Wasser« führt Leser:innen überall hin: von der Hochsee in den Uni-Hörsaal und den Wartebereich einer Urologischen Ambulanz –
2023 trug man locker geknotete Romane mit schick geschlungenen Plots und losen Enden. Was bei den älteren Autoren (Auster, Irving) ein wenig wie Resteverwertung wirkt, kommt bei den jungen Wilden als ungebremste Fabulierlust daher. Luca Kieser hat gleich allen acht Tentakeln eines Riesenkalmars eine eigene Stimme gegeben, eine eigene Wahrnehmung und natürlich auch Namen: der Süße, der Müde oder der Blendende heißen sie und jeder Arm bekommt eine eigene Stimme.
»Tagebuch zu führen macht auf einem Schiff keinen Sinn« wird im Roman gleich zweimal konstatiert. Aber irgendjemand macht es halt doch immer wieder. Und so gab es 2023 Etliches von Schiffen zu berichten. »Gentleman über Bord« zum Beispiel oder »Hinter der Hecke die Welt«, das (mit einem Plot-Fangarm) von einem Forschungsboot im Nordpolarmeer erzählt. Bei Luca Kieser arbeitet eine Erzählstimme, Sanja, auf einem Krillfangfrachter, der einen Riesenkalmar als Beifang birgt.
Stilistisch ist die 1.Person Plural Anrede (»unserem Kalmar«) offensichtlich wieder modern. Auch Auster benutzt die Einbeziehung des Lesers bei Passagen in »Baumgartner«. So angesprochen fühlt man sich zurückversetzt in die Grundschule und bei Kieser gibt es viel Seevokabular zu lernen und evolutionäre Anekdoten. Und natürlich ein Wiedersehen mit den anderen Literaten, die dem Meer verfallen waren, wie z.B. Jules Verne und Herman Melville. Tiefe Gedanken und wissenschaftliche Überlegungen werden dabei oft mit den Ablenkungen des Alltags versetzt (»Dann ist noch so ein Schreiben von der Bank gekommen«).
Ich erlaube mir, die Ausführungen über die Phimose-OP im Zeitraffer zu lesen, stelle aber beim Überfliegen des Kapitels »Bisschen-schüchtern« fest, dass die Vorhaut »unseres jungen Autors« keine eigene Perspektive einnimmt.
Interessant finde ich die Idee, dass die Wesen der Tiefsee mit den Kabeln, die am Meeresgrund verlegt sind, in Berührung kommen. Mit den Geschichten, die dort transportiert werden und den Signalen unserer Gesellschaft. »Mich interessieren die Kabel als Zugang zu sozioökonomischen Verhältnissen.«
Einige Wochen später lese ich bei Gianna Molinari (»Hinter der Hecke die Welt«) wieder etwas über Tiefseekabel im Nordpolarmeer und wie die weit verstreuten Menschen sich diesen Kabeln anvertrauen, um sich mit ihren Liebsten für einige Momente zu verbinden. Weil sie nicht dort sind, wo sie sein sollten. Anders beim Kalmar, der eine ganze Familie von Stimmen immer bei sich hat: »Der Müde schmiegte sich an den Blendenden.«
Luca Kieser, »Weil da war etwas im Wasser«, Roman, Picus, 320 Seiten. Erschienen am 30.08.2023.
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