»Offene See« von Benjamin Myers –
»I’m curious«, sagt Bruno, unser 25jähriger Mountainbikeguide am Narvik-Fjord und grinst von einem zum anderen, »how have you guys known each other?«. Mir wird wieder einmal klar, dass wir jetzt beide aus dem Alter raus sind, in dem man uns sofort als Mutter und Sohn erkennt.
Angesichts der grandiosen Fjord-Kulisse Narviks muss ich an Dulcie in »Offene See« denken und versuche mich zu erinnern, wie die eigentlich den Dorfbewohnern an der englischen Küste ihre ungewöhnliche Freundschaft mit dem 16jährigen Robert erklärt.
Eines Tages, der 2. Weltkrieg ist gerade zu Ende gegangen, taucht er bei ihr auf. Er hat sich aus seiner englischen Kohle-Stadt aufgemacht, um einmal im Leben das Meer zu sehen, bevor er, der Familientradition gemäß, auch Bergmann wird. Dulcie lädt ihn zum Tee ein und er bleibt. Und wächst.
Dulcie mit ihren unkonventionellen Theorien fasziniert ihn. Sie hat wilde Meinungen zu Männern und Frauen, dem Willen der Menschen zur Dummheit und ihrer Bereitschaft, sich ausbeuten zu lassen. Ihre Gegengifte: gutes Essen und gute Literatur. Obwohl im Nachkriegsengland Lebensmittel streng rationiert sind, füttert sie Robert mit Hummer und Dante, mit Eiern, Speck und Christina Rossetti.
Da junge Männer immer annehmen, dass alle Frauen durch Leistung zu beeindrucken seien, rödelt er zum Dank ohne Ende auf ihrem Stück Land, rettet ohne schweres Gerät, nur mit seiner Hände Arbeit, eine halbverfallene, überwachsene Hütte und macht sich daran, alle wild wuchernden Büsche so weit herunter zu stutzen, dass die Sicht aufs Meer wieder frei wird. Davon ist Dulcie nicht begeistert. Als Robert nachfragt, was sie gegen das Meer habe, erlebt er zum ersten Mal, wie ihre fröhliche Souveränität einbricht: »Sagen wir einfach, wir hatten ein Zerwürfnis, und belassen es dabei.«
Wir radeln mit Bruno durch Weltkriegsgebiet auf den Dächern deutscher Bunker mit Sicht aufs Meer. Das war also die Aussicht meines Großvaters, der fast auf den Tag genau 100 Jahre vor meinem Sohn auf die Welt kam, und auf dessen 42. Geburtstag der Überfall auf Polen und damit der Ausbruch des 2. Weltkriegs fiel, der ihn nach Norwegen abkommandieren würde. Weshalb wir 80 Jahre später diese Reise machen.
Bruno, der für den Sommerjob als Tourguide extra aus Brasilien zurück in seine Heimatstadt gekommen ist, zeigt uns die ehemaligen Versorgungstunnel der Wehrmacht und springt lachend voraus in einen kühlen, feuchten Stollen: »Best playground in the world!« Boys will be boys.
Als Robert sie fragt, ob sie an einen Dritten Weltkrieg glaube, antwortet Dulcie: »Oh ja«. Der Erste Weltkrieg sei die größte bis dahin bekannte Barbarei gewesen, aber die Menschen hätten daraus nur gelernt, größere und bessere Bomben zu bauen. »Hitler ist trotzdem passiert, und zu gegebener Zeit wird es wieder einen kleinen wütenden Mann geben.« Dulcie glaubt an eine »kollektive Form von Wahnsinn«. Nur so könne erklärt werden, warum sich immer wieder dieselben Muster von Gewalt und Töten wiederholten.
Dass Dulcies gut weggepackter Schmerz nur in Zusammenarbeit mit Robert ans Licht geholt werden kann und dass nur er für sie einen versunkenen Schatz der Toten heben kann, ist stellenweise etwas kitschig (damit muss man immer rechnen, wenn Timmermann und Wasel übersetzen), aber eben auch ein berührendes Beispiel karmischer Verbundenheit über Generations- und Geschlechtergrenzen hinweg.
»She’s my mom«, klärt der Sohn die Situation und Bruno grinst noch breiter: »Oh, that’s how you’ve known each other.«
Benjamin Myers, Offene See, Roman, aus dem Englischen übersetzt von Ulrike Wasel und Klaus Timmermann, Dumont, 272 Seiten. Erschienen am 22.08.2019.
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