Karen Duve liest in Osnabrück aus ihren biografischen Romanen »Fräulein Nettes kurzer Sommer« und »Sisi« –
2023 wurde Karen Duve mit dem Walter Kempowski Preis für biografische Literatur ausgezeichnet. Wenn man sie ärgern möchte, sagt man zu ihr so etwas wie: »Sie haben es gut! Im Roman muss ja alles nicht so genau stimmen«. Je drei bis fünf Jahre eigener Lebenszeit stecken in den beiden Werken über Annette von Droste-Hülshoff und Elisabeth von Österreich und die Autorin hat sich größte Mühe mit den historischen Fakten gegeben.
Die eigentliche künstlerische Arbeit sei es dann, den toten Stimmen wieder Leben einzuhauchen. Das ist zwar Fiktion, aber wahrscheinlich um eine Dimension wahrer als die Geschichtsbücher, nämlich die menschliche. Das Romanpersonal spricht nicht so, wie es sich im 19.Jahrhundert ausgedrückt hat, sondern so, wie wir es heute nachvollziehen können. Diese Gradwanderung ist eine enorme Dienstleistung am Leser UND an den historischen Figuren.
»Schlaglichter ins Leben hinein« zu setzen ist die Absicht von Karen Duves biografischem Werk und deshalb behandeln beide Bücher nicht das ganze Leben der Protagonistinnen, sondern wichtige Wendepunkte. In »Fräulein Nettes kurzer Sommer« ist das die Zeit von 1817-21. Bei Verwandtenbesuchen auf dem Bökerhof begegnet Annette dem Studenten und romantischen Dichter Heinrich Straube. Er ist ein Göttinger Kommilitone von August von Haxthausen, einem ihrer Onkel. Duve liest die erste, eher komische als romantische Szene des Romans, die beide beim Mineralienklopfen im Steinbruch und im Treibhaus zwischen mickernden Pflanzen zeigt.
»Das wird wohl nichts«, denkt man sich sofort und kann die verkrampfte Atmosphäre spüren, auch wenn die Seelenverwandtschaft der beiden unbeholfenen jungen Leute offensichtlich ist. Straube, wenig attraktiv und wegen seiner ungewöhnlich hohen Stimme in Göttingen »Wimmer« genannt, ist ein Bürgerlicher, aber die Standesschranken werden mit fortschreitender Industrialisierung in beide Richtungen durchlässiger. Die Voraussetzungen für eine Verbindung von Annette und Heinrich wären also gegeben gewesen, umso mehr als sie sich von Natur aus nahe waren in ihrer Empfindsamkeit und dem Leiden an der Welt.
Duve hat herausgefunden, dass es diese Lebensphase der Droste ist, die sie schriftstellerisch reifen lässt. Der Entwicklungssprung von der Gefälligkeitsdichterin zur »Seelenschrei-« Autorin vollzieht sich parallel zu der langen Krankheitsphase, die sich an die gescheiterte Beziehung zu Straube anschließt.
Dass ein Kuss im Gewächshaus eine »Jugendkatastrophe« sein soll, die ein Leben überschatten kann, muss man heutzutage erst einmal nachvollziehen können. Die Lesenden sollen, besonders in den Dialogen, »verankert werden in der Zeit«, erklärt Duve, aber eben möglichst unaufdringlich, weshalb sie sich auch gar nicht erst am westfälischen Platt versucht, obwohl dessen Gebrauch »authentisch« und »realistisch« gewesen wäre. Die Manierismen der Brüder Grimm und die Männlichkeitsrituale der Göttinger Studenten sprechen auch so für sich.
Die Recherche zu Annettes Leben sei knifflig gewesen, berichtet Duve, und die indirekten Quellen, besonders die Briefe der weitläufigen Verwandtschaft, böten mehr Aufschluss als die eigenen Aufzeichnungen der Dichterin.
Genau umgekehrt hingegen bei Sisi. Kaum eine Frauengestalt des 19.Jh ist besser beobachtet und dokumentiert worden, als die Kaiserin von Österreich, die damals als schönste Frau Europas galt und als erste Influencerin modernen Zuschnitts gelten kann, zumal die Fotografie auf dem Vormarsch war und das Paparazzitum hervorbrachte. Ein Fundgrube war für Duve das Tagebuch der Hofdame Marie Festetics, das authentische, aktuelle Eindrücke von Sisi vermittelt und nicht nachträgliche Verklärung, wie so viele andere Quellen.
Beide Frauen, und das ist für Duve ein Kriterium für die Wahl ihrer Sujets gewesen, leben »außerhalb der Erwartung ihrer Umgebung.« Sie sind deswegen interessant, weil sie sich weigern, nur Deko zu sein, wobei Sisi nicht nur aufgrund ihres hohen Standes und der späteren Geburt, sondern auch wegen ihrer unkonventionelleren Erziehung die besseren Karten für die Durchsetzung eigener Freiheiten hatte. Zum Beispiel in Bezug auf ein selbstbestimmtes Liebesleben. »Die gesellschaftliche Erwartung an sie war, dass es nicht herauskommen darf.«
Die Familie von Annette hingegen will vor allem nicht, dass sie schreibt. Nette soll sich in eine normale Ehe und eine normale Frauenbiografie fügen. »Das kenne ich auch,« sagt Duve.
Eine originelle Verbindung zwischen beiden Büchern, v.a. für uns Reiterinnen, bietet der Podcast »Fräulein Nette unterwegs«, der einen Wanderritt in fünf Stationen dokumentiert. Von Burg Hülshoff im Münsterland geht es zum Bökerhof bei Brakel, wo Annette oft bei den von Haxthausen zu Besuch war und wo sie einst Heinrich Straube begegnete. Der hat dies wohl nie ganz vergessen. Als er 1847 stirbt, findet man in seinem Nachlass eine Locke der Droste.
Karen Duve, »Sisi«, Roman, Galiani-Berlin, 416 Seiten. Erschienen am 22.09.2022.
Karen Duve, »Fräulein Nettes kurzer Sommer«, Roman, Galiani-Berlin, 592 Seiten. Erschienen 2018.
Über den Podcast zum Wanderritt
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