Eine ausführlichere Version und die Erklärung, warum »Der Markisenmann« von Jan Weiler das feministischere Tochter-Vater-Buch ist, gibt es im Literaturcafé.
»Was soll aus mir werden?« Das ist die bange Frage, die »Vom Himmel die Sterne« durchzieht, und obwohl die Geschichte in den Nachkriegs-USA spielt, ist das Thema auch hier und heute für Frauen präsent. Für Jungens war es (bis vor Kurzem) selbstverständlich, was aus ihnen wird: ein Mann natürlich. Für Mädchen gibt es seit einigen Jahrzehnten zusätzlich zur Frauenrolle die Option, ein besserer Mann zu werden. Eine anstrengende, aber lohnende Variante des Coming of Age und – im Falle von Sallie Kincaid – ihre einzige Chance sich ein paar Inselchen der Selbstbestimmung zu erkämpfen.
Sie hat sich früh vorgenommen, ganz wie der Papa zu werden, den alle nur respektvoll den »Duke« nennen. Ihre Mutter hat sie früh verloren und während der jüngere Bruder empfindlich und ängstlich ist, ist Sallie der Junge, den »der Duke«, sich immer gewünscht hat. Schon auf den ersten Seiten wird die Ausgangssituation gezimmert: eine ausgesprochen simple Familienlaube aus Vater, Tochter aus vorheriger Ehe, Stiefmutter und leiblichem Sohn beider Eltern. Eines Tages wird Sallie zu einer verarmten Tante verbannt. Sie muss verschwinden, weil sie einen Unfall verursacht, der den kleinen Bruder in Lebensgefahr bringt. »Bloß, bis sich die Lage beruhigt hat«, verspricht Daddy ihr, aber Sallie weiß, dass sich »der Duke« nicht gegen seine Ehefrau (die böse Stiefmutter) durchsetzen kann. Was zu Beginn etwas klischeehaft daherkommt, bekommt im Verlaufe der Geschichte durch das Virginia-Lokalkolorit und diverse Plot-Twists etwas mehr Individualität.
Und am Ende darf’s sogar noch ein bisschen matrilinear werden, wenn Sallie glaubt sich daran zu erinnern, dass ihre Mutter ihr einst den »Auftrag« gab, zu kämpfen. Das soll wohl eine Art feministischer Hoffnungsschimmer im Roman sein: dass Sallie insgeheim gar nicht, wie alle glauben, die Kincaid-Gene ihres Vaters repräsentiert, dessen Schwächen nach und nach ans Licht kommen, sondern dass Muttern, die mysteriös ums Leben kam und über die nicht geredet werden darf, die eigentlich Starke war. Die ihr sagt, wofür es zu kämpfen lohnt und was es zu bewahren gilt (»Behalte das.«) Schade nur, dass es in Familien, wie in der Politik, nicht um Stärke geht, sondern um Macht.
Die Macht zu verteidigen ist für alle Beteiligten ausgesprochen anstrengend und für manche auch tödlich. »Aber warum willst du denn trotzdem das Sagen haben?«, fragt Sallie daher einmal ihren Vater. »Weil es nichts Besseres gibt. Absolut nichts.« Anders als bei Daddy, dem es hauptsächlich um die Lust am Herrschen geht, geht es bei den Frauen, auch bei Sallie, um die Verteidigung der nackten Existenz. Sich männliche Verhaltensweisen anzueignen (z.B. den Gebrauch von Schusswaffen) und im richtigen Moment die weibliche Rolle zu umgehen (Stichwort Schwangerschaft und Tod im Kindbett) ist in der Gesellschaft, die Walls konstruiert kein Luxus freier Lebensgestaltung, sondern eine Überlebensstrategie.
Den ur-amerikanischen Themen aus ihren früheren Romanen, wie z.B. »Half Broke Horses« (»Ein ungezähmtes Leben«, unvergessen als Abi-Sternchenthema in Baden-Württemberg) bleibt Jeannette Walls treu. Prohibition und evangelikale Doppelmoral, protestantische Arbeitsethik (»Wir sind nicht faul« wehren sich die schwarzen Bootlegger) und Naturverbundenheit (»Tom erzählt mir, wie sehr er diesen Fluss liebt«) dürfen als Charakterisierungshelfer natürlich nicht fehlen. Das Foreshadowing langweilt (»Es könnte aber auch an dem liegen, was passiert ist, als ich drei Jahre alt war«) Mit Klischees wird nicht gespart, aber das scheint bei Female-Empowerment-Romanen (wir erinnern uns an »Lessons in Chemistry«) weder Rezensent:innen noch Leser:innen zu stören.
Jeannette Walls, Vom Himmel die Sterne. Roman. Übersetzerin/Übersetzer: Ulrike Wasel, Klaus Timmermann (wer sonst?). Hoffmann und Campe. 448 Seiten. Erschienen am 4.9.2023
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