Biografie und Mythos –

Martin Suters »Melody« ist ein Spiel mit der Vieldeutigkeit der Wahrheit und die Menus sind in dieser Geschichte noch das Genaueste.

Weil ich gestern im Leipziger Café Grundmann österreichisch geschlemmt habe, fielen mir die Rezensionen der genussfeindlichen deutschen Kritiker:innen ein. Zu viele Details über Weine und raffinierte italienische Rezepte, heißt es vielerorts, die Handlung hätte man um ein Drittel (mindestens!) straffen können.

In »Melody« geht es vordergründig um Wahrheit, aber eigentlich darum, dass wir aus Geschichten bestehen. Den Geschichten, die wir von uns preisgeben, die wir verbergen oder aber denen, von denen wir gar nichts wissen können.

Laura, die Nichte des ehemaligen Nationalrats Peter Stotz, weiß z.B. nicht, warum ihr ein Fingerglied fehlt. Ihre Eltern wollen ihr die Geschichte zum 18.Geburtstag erzählen, aber dazu kommt es nicht.

Peter Stotz weiß sehr wohl, dass nach seinem Tod, der, soviel ist ihm klar, bald eintreten wird, das Geschichtenerzählen über ihn weitergeht. Das will er steuern, so wie er im Leben als graue Eminenz Wirtschaftsbosse und Politiker gesteuert hat.

Nur eine Sache hat er nie kontrollieren können. Die Angelegenheit mit Melody, seiner bildschönen marokkanischen Verlobten, die wenige Tage vor der geplanten Hochzeit verschwindet.

Tom Elber, den er zum Nachlassverwalter bestellt, also zum Vollstrecker seiner Geschichte, ist ein etwas ziellos dahintreibender 30jähriger Jurist, der die Stelle aus Mangel an Alternativen annimmt. Er merkt bald, dass durch die Nähe zu Stotz – er muss in dessen Villa wohnen – sein Leben sich für immer verändert.

Auch das Erbe, das er zu vermitteln hat, changiert mit jedem Tag, den er im Archiv arbeitet. »Hast du das auch?« fragt er Laura in seiner Verwirrung während ihrer gemeinsamen Recherche, »Erinnerungen an Dinge, die gar nicht stattgefunden haben?«

Gemeinsam folgen sie den Ungereimtheiten in Stotz‘ Geschichten nach Singapur und in die Ägäis, wo sie finden, was sie abschließend für die Wahrheit halten können.

Wie immer liest Suter sich wie die süffigen Getränke, die einen großen Teil des Textes einnehmen und das Erzähltempo drosseln. So, wie man sich in südlicheren Gefielden mit Essen und Trinken Zeit lässt, sollte man in den erlesenen Menüs schwelgen, anstatt dem nächsten Wendepunkt der Handlung entgegenzufiebern. Die Überraschungen entfalten sich dann zu gegebener Zeit.

Martin Suter, »Melody«, Roman, Diogenes, 336 Seiten. Erschienen am 23.03.2023. Cover:Diogenes.