In einem der letzten klassischen Kaufhäuser in meiner Stadt gibt es ganz hinten am Ende der glitzernden Schmuckabteilung eine schmuddelige Werkstattecke, in der Lederarmbänder für Armbanduhren verkauft werden. Dort bekommt man auch eine Uhrenbatterie gewechselt, was wahrscheinlich der rentable Grund dafür ist, dass die Werkstatt dort immer noch geduldet wird.

Die Batterie meiner Armbanduhr war leer und ich war ein paarmal an der Werkstatt vorbeigegangen, nur um wieder umzudrehen, weil die Schlange zu lang war. Nachdem Zeit auch Geld ist, dachte ich mir, dass es vielleicht angemessen wäre, gleich eine neue Uhr zu kaufen. Ich hatte etwas Geld geerbt und würde mir ein echtes Qualitätsstück gönnen. Nach etwa sechs Wochen auf der Suche, in mehreren europäischen Städten, musste ich mir eingestehen, dass ich einfach keines finden konnte. Alle Armbanduhren sahen entweder lächerlich aus (ICEwatch), kamen aus dem letzten Jahrhundert (Swatch) oder waren offensichtlich für alternde Baby-Boomer entworfen, die gerade eine Erbschaft gemacht hatten (Nomos Glashütte).

Als ich merkte, dass ich mir zwar eine teure Uhr leisten, aber einfach keine finden konnte, die mir wirklich gefiel, setzte Konsumpanik ein. Aber zum Glück auch meine Kreativität. Ich hatte etliche alte Armbanduhren irgendwo in einer Schublade aufgehoben und beschloss zu recyclen. Ich wählte eine, die fast so alt ist wie mein Sohn (der kürzlich mit dem Studium begonnen hat) und lief wieder zum Kaufhaus in die Schmuckabteilung. Als ich an der Reihe war, legte ich meine alte Uhr auf die Theke.
„Können Sie mir sagen, welche Armbandgröße ich dafür brauche?“ Die Mitarbeiterin nahm eine Schieblehre zur Hand und maß 18 Millimeter.
„16 gehen aber auch, wenn wir einen Adapter nehmen,“ sagte sie, „Gucken Sie mal bei den 18ern und ich suche ein paar in 16 Millimeter raus“.
Ich sammelte anthrazitfarbene, schwarze, weiße, türkise und Metall-Armbänder. Frau Müller, so der Name auf dem Schild, merkte sofort, dass ich noch ein wenig unentschlossen war.

Wir waren gerade dabei die Materialien zu diskutieren („Ich zieh‘ doch keinen Stachelrochen an.“ „Ist künstlich, keine Angst, genau wie das Haifischmuster und das Straußenleder.“) als eine Kundin an den Schalter kam und eine neue Schlange bildete. Von ihren Fingern, deren lange Nägel hochrot lackiert und die mit jeweils zwei Ringen besetzt waren, baumelte eine Breitling-Uhr herab, die offensichtlich eine neue Batterie brauchte. Frau Müller würdigte den Neuzugang keines Blickes und fuhr fort die Auswahl der Farben mit mir zu verhandeln. Sie war für Türkis („Jetzt kommt der Sommer“) und nachdem ich einige meiner hübschesten Anschaffungen unvoreingenommenen Beratern verdanke, stimmte ich sofort zu.

Die Kundin hinter mir hackte auf ihrem Smartphone herum, (lange Fingernägel erzeugen dabei ein hässliches, maschinengewehrartiges Geräusch) hob aber in dem Moment den Blick, als Frau Müller meiner alten Fossil-Uhr das speckige braune Lederarmband abnahm. Das war mir etwas peinlich, aber als meine Uhr so nackt und zerkratzt auf dem Tisch lag, dachte ich daran, wie oft sie angezogen hatte. Tag für Tag vermaß sie mein Leben. Ob wir nun an einem Montag Morgen zu spät für den Kindergarten dran waren, ich versuchte nicht zu früh bei einem meiner seltenen Dates aufzutauchen oder wir am ersten Tag der Sommerferien die Nachtfähre nach Schweden erreichen mussten. Mit einem Mal gab mir die Idee meine Uhr wiederzubeleben ein warmes Gefühl der Vertrautheit. So als ob Frau Müller mir dabei half eine alte Bekanntschaft zu erneuern.

Zärtlich reinigte sie meine Uhr mit einem weichen Tuch und öffnete die Rückseite mit einem Werkzeug, das wie ein Mini-Brecheisen aussah. Als es bedrohlich knackte, schaute die Kundin hinter mir wieder genervt auf, als wollte sie sagen: „Können Sie sich nicht einfach eine neue kaufen?“ Während ich mit einem Lächeln um Verständnis warb, machte Frau Müller ruhig und konzentriert weiter. Für jemanden, die mit Uhren arbeitet schien sie sich der verrinnenden Zeit erstaunlich wenig bewusst zu sein. Ihre präzisen, bedächtigen Handgriffen wirkten deplaziert in der gierigen Eile des Kaufhauses. Und nachdem das Reparieren von Uhren deren Neuanschaffung verhindert – wie mein Beispiel zeigt – erschien ihre demonstrative Sorgfalt wie eine stille Rebellion gegen die Konsumforderungen ihres Arbeitgebers.

Sie identifizierte die Nummer auf der alten Batterie mithilfe einer beleuchteten Lupe, langte nach einem dicken abgegriffenen Handbuch in ihrem Regal, murmelte: „anderes Nummerierungssystem“ und holte die entsprechende neue Batterie schließlich aus einer Blisterverpackung in der untersten Thekenschublade hervor. Als sie meine Uhr testete und das Gerät grünes Licht gab, legte sie mit wenigen Handgriffen das neue türkise Sommerarmband an und überreichte mir mit sichtbarer Befriedigung meine Uhr.
„Hier. Sehr hübsch. So gut wie neu.“ Die Kundin hinter mir schnaubte. Sie war hörbar eifersüchtig auf die Zeit und die Aufmerksamkeit, die meine Uhr und ich von Frau Müller bekommen hatten. Und weil sich das viel besser anfühlte als neu kaufen, habe ich beschlossen, dass ich demnächst meine anderen vier alten Armbanduhren auch neu einkleiden lasse: in Schwarz, Anthrazit, Weiß und Metall.