Christine Koschmieder stellt sich ihren eigenen Grenzen und fragt, wo eigentlich unsere Fähigkeit zur Intimität geblieben ist –
In den Siebzigern beklagte meine Mutter einen zunehmenden »Mangel an Romantik« angesichts der vermehrt auftretenden Darstellungen nackter Frauenkörper in den Medien. Mit »Romantik« war im Sprachcode meiner Mutter nicht Romantik gemeint, sondern Erotik. Wenn das Geheimnis verschwinde, so ihre These, werde es irgendwann zwischen Männern und Frauen aufhören zu knistern.
Sie ging nicht so weit, die Nippel der Nacktmodels auf Zeitschriften zu überkleben, wie Christine Koschmieders Großmutter, aber sie fühlte ein deutliches Unbehagen bei der schamlosen Schwemme an nackten Brüsten in der Öffentlichkeit. Die gleichzeitig zum Standard aufsteigende Libertinage unter jungen Menschen sah sie ebenso skeptisch. Der Körper mochte ja, besonders in jungen Jahren, unbegrenzte Energie für promisken Lebenswandel haben, aber das Herz doch wohl kaum, oder?
»Da haben wir den Salat«, denke ich an manchen Stellen von Koschmieders »Schambereich«. Anstatt uns sexuell zu befreien, haben wir in den Achtzigern wahrscheinlich nur die Gefängniszelle gewechselt und die Gitter neu gestrichen. Christine Koschmieder lokalisiert in einer Therapiesitzung ihre verdrängten Ängste und Schamgefühle in einer »Metallkassette im Bauch«, deren Kanten ihr »an die Magenwände stoßen«.
Mitte Oktober bin ich mit Buch und Hörbuch durch. Letzteres liest Koschmieder selbst ein, weshalb es mir besonders nahegeht. Ich mache mich daran, meine Gedanken festzuhalten und logge mich dazu in das NetGalley-Portal, über das der Kanon-Verlag mir beide Formate zur Verfügung gestellt hat.Auf der NetGalley-Startseite vom 14. Oktober streckt mir das Titelmodel von »Eine Sklavin als Geschenk« (von »Alisha Bell«) ihren nackten Hintern entgegen. An Brust und Oberschenkeln ist sie mit Latexstreifen geschnürt (s.mein Facebookpost vom 14.10.23). Immerhin lässt mir der Algorithmus auch die Möglichkeit, stattdessen Narges Mohammadis »Frauen!Leben!Freiheit!« (»Friedensnobelpreis!«) anzufragen.
Die Nähe zu »Schambereich« drängt sich mir auf. Vielleicht hat unsere Unfähigkeit zur Intimität mit unserer Teenager-Zeit zu tun, als das Privatfernsehen seinen Durchbruch feierte und wir mitansehen mussten, wie unansehnliche alte Männer mit debilen TV-Tittenformaten fette Kohle machten. Wer das damals anprangerte, war verklemmt, denn diese Macher hatten doch endlich die öffentlich-rechtliche Medienlandschaft von ihrem Spießermuff befreit und würden uns bald auch die GEW-Gebühren und einen überhöhten intellektuellen Programmanspruch ersparen.
Als ich mich bei NetGalley über meine frauenverachtende und zynische Start-Auswahl beschwere, bekomme ich genau diese Unterstellung von Prüderie: »Wir verstehen, dass die erotischen Titel nicht jedermanns Sache sind«. Mit »Erotik« ist im NetGalley Sprachcode nicht Erotik gemeint, sondern Porno. Im Falle von »Eine Sklavin zum Geschenk« werden auch noch gezielt rassistische Instinkte bedient (glatte lange schwarze Haare und dezente Dunkelfärbung der Haut).
Seit ich mich beschwert habe, werde ich auf meiner Startseite mit Blümchen-Romanzen bestraft, wie »Der zauberhafte Wunschbuchladen« oder »Das zweite Glück im kleinen Vintage Shop«.
Christine Koschmieder findet am Ende ihrer Selbsterforschung die Freundschaft mit dem eigenen Körper und sucht Hoffnung in den Fortschritten, die die nächste Generation kennzeichnen. »All das ist nicht nichts!« stellt sie fest. Aber offensichtlich ist Intimität trotz aller gesellschaftlichen Errungenschaften immer schwieriger geworden.
Christine Koschmieder, »Schambereich. Über Sex sprechen«, Kanon-Verlag, 176 Seiten, erschienen am 11.10.2023.
Hörbuch gesprochen von Christine Koschmieder, Kanon-Audio, 5’18“, erschienen am 11.10.23.
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