Zum heutigen Volkstrauertag passt Volker Jarcks »Und später für immer«, die Geschichte eines Deserteurs in den letzten Kriegswochen 1945 –
Jarcks fulminantes Romandebüt »Sieben Richtige« stand 2021 auf der Shortlist für den Literaturpreis Ruhr und mit »Robuste Herzen« (2022) folgte wieder ein Roman mit mehreren Erzählsträngen. Die komplexen Plots beider Geschichten erinnerten mich ans Sitcom-Format, zumal zeitgenössische Befindlichkeiten und moderne Beziehungen vorkommen und viel Personal, das einem wie bei einer TV-Serie als Gruppe ans Herz wächst.
Die Erzählperspektive von »Und später für immer« kümmert sich hingegen hauptsächlich um einen einzigen Helden: den Deserteur Johann Meinert. Die Geschichte des Luftwaffen-Feldwebels am Fliegerhorst Stade beginnt in den letzten Kriegswochen 1945, als die Zweifel am »Endsieg« bis in die letzten Winkel der Truppe gesickert sind. Meinert bekommt es immer mehr mit der Angst zu tun. Ein Wort, das freilich keinen Platz hat im Krieg. »Fünf ehrlose Buchstaben, die man wohl hochwürgen, doch niemals ausspucken konnte. Angst war das Geräusch, das Johann hörte, wenn alle Härchen sich aufstellten, das Wispern der Sterblichkeit.«
Als seine frisch angetraute Ehefrau Emmy schwanger ist, weiß Feldwebel Meinert immer weniger, wofür er eigentlich bereit sein sollte zu sterben, umso mehr aber, wofür er am Leben bleiben will. Und er ist nicht alleine: »Es ist beschlossen: Wir wagen es, feige zu sein. Der Hauptmann geht, wir folgen.« Und die Lesenden folgen der Flucht, dem Sich-Verstecken und Meinerts neuer Angst vor möglichen Denunziant:innen.
Eine davon könnte Frieda sein, eine lebenskluge Siebzehnjährige, die zugleich menschlicher Trost, Nachrichtenkanal und erotische Versuchung für Johann ist. Und sein Gewissen:
»Das, was du gemacht hast«, sagt sie.
»Ja?«
»Ich weiß nicht, ob das besonders mutig war oder besonders das Gegenteil. Gut oder schlecht. Ich weiß nicht.«
Als Johann darauf keine Antwort geben kann, liefert Frieda sie selbst:
»Vielleicht war es irgendwas dazwischen?«, sagt sie. »So wie Menschen eben sind?«
»Du hast komische Sachen im Kopf, Deern.« Von wegen!
»Und später für immer« ist die Geschichte von Volker Jarcks Großvater und ein Zeugnis großer Empathie für die Menschen einer Zeit, die wir nicht erleben wollen. Denn eines ist für Meinerts Generation klar: »Nie mehr werden sie ohne diesen Krieg in den Knochen sein, alle.«
Wie wir heute wissen, betrifft das auch die Nachkommen. Weshalb die Kriegsenkel-Generation die passende Zielgruppe für den Roman ist. Kriegsenkel:in sein bedeutet Held:in zu werden in einem Leben, das uns vererbt wurde. Mit den Belastungen, die nicht unsere sind, die wir zum Teil gar nicht kennen, aber verwalten, vermeiden, erleiden und erledigen müssen.
Ich hätte »Und später für immer« noch spannender gefunden, wenn Jarck sich nicht nur im Nachwort mit ins Spiel gebracht hätte, sondern mitten hineingeschrieben und sich sein Familienerbe damit schriftstellerisch angeeignet hätte. Andererseits passt das eitle Format der Autofiktion vielleicht nicht zu den zurückgenommenen Nordlichtern.
Für mich hingegen ist das kein Problem. Also: Ich erinnere mich, dass mein Vater am Volkstrauertag immer in Uniform am Frühstückstisch saß. Obwohl Sonntag war. Als Kommandeur seines Luftwaffen-Bataillons oder -Regiments und je nachdem, wo wir gerade wohnten (oder vielmehr Stellung bezogen hatten), musste er auf dem nächstgelegenen Heldenfriedhof erscheinen, um derer zu gedenken, die sinnlos vor ihm in ihren Kriegsgräbern lagen. Unter ihnen bestimmt viele, die sich nicht trauten, feige zu sein.
Volker Jarck, »Und später für immer«, Roman, Insel, 207 Seiten. Erschienen am 9.9.2024.
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