Benedict Wells‘ Schreibbilanz bietet für alle etwas –

Von »Trägerraketen« und »Verrecken auf hoher See« und »Kitschfaktor vier« ist die Rede in »Die Geschichten in uns«. Erstere sind die guten Anfangsideen und gelungenen Formulierungen, die einen durch ein Manuskript tragen und womöglich später, im Zuge von »kill your darlings«, wieder abgeworfen werden. Die anderen beiden kennt jede:r Schreibende selbst.

Wells ist witzig und selbstironisch in seinem neuesten Buch und er resümiert, recyclet und zitiert nicht nur andere Schreibratgeber (so der Vorwurf einiger Rezensenten), sondern hat nach zwanzig Jahren Schreiben wertvolle Einsichten parat. Die wichtigste: Der Text lässt sich nicht trennen vom Drama des eigenen Lebens. Also kann man auch gleich dort anfangen, nämlich zuerst mit sich selbst ehrlich zu sein und dann mit den Anderen.

Die Anderen, das ist für ihn ist das gleich ein massenhaftes Lesepublikum. Das Phänomen Wells beruht, wie übrigens auch bei Doris Dörrie, nicht zuletzt auf seiner Unerschrockenheit vor der Begegnung mit den dunklen Lebenskapiteln, den Fehl- und Schicksalsschlägen und der Einsamkeit.

Nun könnte man über die Betrachtung der eigenen Biografie in der Nabelschau versinken, weshalb Wells immer wieder betont, dass wer schreiben will lesen muss. Oder zumindest viel gelesen haben sollte. Die Empathie, die im Zugang zu fremden Geschichten beim Lesen aufgebaut wird, ist etwas, das in dem Moment, wenn man eigene Figuren handeln lässt, unerlässlich ist, um das Herz der Lesenden zu berühren.

Es ist übrigens dieselbe Empathieschulung, die auch in den Beziehungen des Alltags hilft, weshalb Papst Franziskus in diesem Sommer angekündigt hat, er wolle die Beschäftigung mit Literatur stärker in der Priesterausbildung verankern. Die Buchwelt war begeistert von dem Augustbrief des Papstes über den Wert der Literatur für die Bildung (O-Ton hier, auch in Übersetzung) »Eine Art Schule für das Unterscheidungsvermögen« nennt Franziskus einen Abschnitt und »Der Stimme von jemandem zuhören« einen anderen.Geschichten helfen eben dabei, vom eigenen Ego abzurücken und für andere Seelen Sorge zu tragen. Zum Beispiel die der eigenen Romanfiguren.

Lesetipps mit Aufforderungscharakter

Die Schwäche der meisten Schreibratgeber, durch die Wells sich fleißig gewühlt hat, bestehe darin, dass sie eine bestimmte Vorgehensweise propagierten. Mal liege der Fokus auf Plotentwicklung nach den bekannten Schemata, dann wieder auf starken, unverwechselbaren Charakteren. Dies sei eine Vereinfachung, die der Realität der Romanentwicklung nicht gerecht werde. Das fertige Manuskript sei immer ein »chaotischer Mix zwischen Plotentwicklung, Figurenentwicklung und Zufällen des Unbewussten«.

Das bedeutet nicht, dass Wells keine konkreten Tipps gibt. Zum Beispiel für das Romanende. Es müsse »zwingend« sein, auf eine Art »unausweichlich und unerwartet«, die im Gedächtnis bleibt. Im Englischen gibt es dafür das Adjektiv »compelling«, das auch für Personen benutzt wird und mehr als nur »attraktiv« bedeutet. Eher so etwas wie »unwiderstehlich«. Ein Natureignis, ein Schicksal, um das man nicht herumkommt. So sollte in der Wellschen Ästhetik das Ende eines Romans gestaltet sein.

Am Ende von »Die Geschichten in uns« spricht der Autor die Lesenden noch einmal direkt an und hofft, er habe ihnen »nicht zuviel Persönliches zugemutet.« Schon die Geheimniskrämerei um seine Herkunft aus der von-Schirach–Sippe muss anstrengender gewesen sein als die Ehrlichkeit, die er sich jetzt als arrivierter Bestsellerautor leisten kann und die beim Publikum hochwillkommen ist.

Seine Hoffnung bei diesem Befreiungsschlag ist, dass diejenigen, die sich erst auf dem Weg zum Erfolg befinden, bisweilen schon den Mut zur radikalen Offenheit aufbringen. »[…] eines habe ich gelernt: dass man sich anderen Menschen gegenüber öffnen muss, es gibt keinen anderen Weg aus dem Dunkeln«, betont er und lässt sich dabei von Leonhard Cohen flankieren: »There is a crack in everything, that’s how the light gets in.« Für den konkreten Schreibprozess bedeutet das meistens: »Nicht die Geschichte muss sich ändern, sondern ich«.

Benedict Wells, »Die Geschichten in uns. Vom Schreiben und vom Leben«, Diogenes, 400 Seiten. Erschienen am 24.07.2024. Cover:Diogenes