Endlich mal wieder was von Sten Nadolny und endlich mal wieder ein Roman mit Gesellschaftskritik. Die entzückende Dreiecksgeschichte von Marietta (heißt eigentlich Irina), Mike (heißt eigentlich Michael) und Bruno (heißt nicht nur so, sondern ist ein Problembär im Theaterbetrieb) beginnt als Reisebekanntschaft, entwickelt sich aber über Jahrzehnte weiter.

Marietta hat viele phantastische, ungewöhnliche Eigenschaften und Fertigkeiten. Sie kann sich beispielsweise jedes Gesicht merken, das ihr jemals untergekommen ist. Außerdem knüpft sie orientalische Teppiche und hat trotz Krankheit Anfälle von spontaner Abenteuerlust. Aber an der Aufgabe, einen Antrag auf Reparatur ihres Rollstuhls zu stellen, scheitert sie.

Witzigerweise ist Michael absolut gesichtsblind und erkennt selbst alte Freunde nicht wieder. Er kann zwar Marietta bei den leidigen Anträgen helfen und tut das auch über zwanzig Jahre hinweg, bewegt sich aber nie aus seiner Komfortzone von ängstlicher Unentschlossenheit und bequemer Verdrängung.

Am wichtigsten an »Herbstgeschichte« finde ich die Beschreibungen der bürokratischen Drangsal, die unser Gesundheitssystem für Hilfesuchende bereithält. Die Antragsflut und die darauf folgenden Wartezeiten kann man laut Erzähler nur als absolut gesunde und mit unerschütterlicher Resilienz ausgestattete Person bewältigen. Nadolny hat nicht nur einen zutiefst menschlichen, sondern auch boshaft zeitgeschichtlichen und, auch nicht ganz unwichtig, spannenden Roman vorgelegt.

Sten Nadolny, »Herbstgeschichte«, ungekürztes Hörbuch, gelesen von Peter Kaempfe, Hörbuch Hamburg, 7 Stunden 54 Minuten. Erschienen am 02.10.2025.