Marlen Hobracks »Erbgut: Was von meiner Mutter bleibt« –
Die Wäschekörbe mit Rechnungen kenne ich schon aus »Klassenbeste« von 2022, als Hobrack über ihre Mutter schrieb: »Ausgerechnet nach ihrem Aufstieg in die Mittelschicht tappte meine Mutter in die Armutsfalle. […] Wie ein außer Kontrolle geratener Nestbautrieb erfasste der Rausch der Warenwelt meine Mutter, und sie igelte sich ein, zart und weich, in einer Welt, die ihr oft genug feindselig erscheinen musste.«
Die Kaufsucht der Mutter und der Trieb zum Horten, mit dem Hobrack nach deren Tod konfrontiert ist, leuchtet in »Erbgut« sofort ein, wenn die Ich-Erzählerin/Autorin ihn als Reaktion von Leere und Lieblosigkeit in Ehe und Nach-Wende-Gesellschaft erklärt. Die Autorin und ihre Geschwister haben zwei Möglichkeiten. Alles entrümpeln lassen und in den Container geben oder sich durch die Wohnung zu wühlen. »So gerät die Archäologie der Dingwelt meiner Mutter zu der versteckten und verdeckten Psychoanalyse meiner Mutter.«
Die Klarheit, mit der Hobrack ihre eigene Sozialisation erkennt, ist, wie immer, beeindruckend. Zum Beispiel beim Phänomen Parentifizierung. Das geht so: »Hast du mich lieb?« fragt die, die eigentlich die Mutter ist. »Ja, Mami,« antwortet die, die eigentlich Kind ist, »du bist die beste Mami der Welt. Ich brauche keine Freunde, sagte meine Mutter. Meine Kinder sind meine Freunde.« Pech für Kinder, von denen Mami dann annimmt, dass sie deshalb auch keine Freunde brauchen. Kinder von bedürftigen Eltern sind oft isoliert oder isolieren sich aus Loyalität freiwillig.
»Erbgut« ist kein Verrat an der Mutter, wie die Autorin in der Einleitung befürchtet. Die überhöhenden Berichte, die gerne an Muttertag verbreitet werden und dem Leben einer Frau auch nicht gerecht werden, sind es eher. Es ist auch keine 1000-Seiten narzisstische Nabelschau über das schwere Erbe einer Mutter, die eben auch nur ein Mensch ist. Sondern vor allem eine Abrechnung – und da ist sie wieder, die Mathematik und organisierende Logik als Helferin weiblicher Selbstermächtigung!
Eine Abrechnung also mit einer Gesellschaftsform, die ihre Familien verrotten lässt. Für mich ist Marlen Hobrack die Annie Erneaux der linken Gehirnhälfte! So wie sie Abstracts von namhaften Psychologen und Soziologen elegant mit eigenen Erinnerungen verknüpft, beweist sie ganz locker und fast nebenbei die unmittelbare Anwendwarkeit der Theorien auf unsere Lebenswirklichkeit.
2018, am endgültigen Ende meiner eigenen Parentifizierung, war ich übrigens eine, die den Container kommen ließ. Hier die Women’s Memoir Online-Lesung zu »Was Geld nicht kaufen kann«. Den Text dazu (»Nichts, was wir brauchten und davon viel zu viel«) gibt’s als pdf Download.
Marlen Hobrack, »Erbgut. Was von meiner Mutter bleibt«, Harper&Collins, 240 Seiten. Erschienen am 24.09.2024.
Marlen Hobrack, »Klassenbeste. Wie Herkunft unsere Gesellschaft spaltet«, Hanser Berlin, 213 Seiten. Erschienen am 22.08.2022.
Marlen Hobrack kommt auf die Leipziger Buchmesse: Do., 27.03.25 »Du hast eine neue Freundschaftsanfrage« (Lesung 14-16 oder 18-19.30 Uhr) und Fr., 28.03.25 »The Power of No. Warum wir endlich unbequem werden müssen« (Gespräch/Interview 20-21 Uhr)
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