Georgi Gospodinovs »Zeitzuflucht« –

Vergangenen Herbst auf der Frankfurter Buchmesse sah ich bei der Eröffnungsfeier den bulgarischen Schriftsteller Georgi Gospodinov vor der Festhalle stehen. Ich begrüßte ihn und offensichtlich gehört er noch zu den Autoren, die sich freuen, erkannt zu werden. Ich hatte die Buchvorstellung von »Zeitzuflucht« bei der improvisierten Leipziger Pop-up Buchmesse 2022 erlebt. »You’re Georgi Gospodinov!« »That’s me alright«. Beflügelt durch sein Lächeln zitierte ich: »Tomorrow was the 1st of September«. Jetzt strahlte er: »So what’s your name, dear?«

Es ist mein Segen und mein Fluch, dass ich mich an den Wortlaut einzelner Sätze erinnere, selbst wenn mein Gedächtnis insgesamt schlechter wird. Ich kann einmal Gehörtes oder Gelesenes, das mich beeindruckt hat, jahrzehntelang zitieren. Selbstredend sind die Autor:innen meiner Lektüre die Einzigen, die sich über diese Eigenschaft freuen. Einen Gruß aus der Vergangenheit im Stil von »Im Sommer 1996 hast du aber genau das Gegenteil behauptet«, hört hingegen niemand gerne.

»Das erste Unheil war die Rückkehr der Vergangenheit« beginnt Gospodinov auf der Balkannacht 2022 in Leipzig seine Analyse der gegenwärtigen Weltlage. »Trotzki hat einmal gesagt, die Zukunft sei Propaganda, aber die Vergangenheit ist es eben auch.« Erinnern auf persönlicher Ebene sei notwendig und heilsam, aber wenn die Politik die Vergangenheit instrumentalisiere, kann das die Vorstufe zu dem sein, was er als zweites Unheil benennt: Krieg.

In »Zeitzuflucht« gründet Gaustin, ein »Flaneur, der durch die Zeit reist« eine Klinik für Alzheimer-Kranke, in der die Patienten Trost in vertrauten Erinnerungen finden können. Jede Etage ist einem anderen Jahrzehnt gewidmet und Musik, Gerüche, Essen und Unterhaltung darauf abgestimmt. Irgendwann fangen auch immer mehr Gesunde an, in der Klinik Zuflucht zu suchen. Einer »beunruhigenden Gegenwart und einer gecancelten Zukunft« zu entfliehen sei deren Motivation, so Gospodinov. Die »gute alte Zeit« sei ein natürlicher Schutzraum.
Erst als die Regierung ein Referendum darüber abhalten will, in welches Jahrzehnt das Land kollektiv zurückkehren solle, kippt diese Idylle.

Die Vergangenheit überholt uns gerade rechts

»Zeitzuflucht« endet mit dem Ausbruch des 2. Weltkriegs, über den der Erzähler immer wieder in den Zeitungen der Bibliothek gelesen hat.
»[…] ich lese und denke mir, dass die Welt immer ein wenig vor dem 1.September steht, am Ende des Sommers mit […] dem weit entfernten Donnern eines soeben beginnenden Krieges.«

Als dann im Wohnzimmer der Familie Gospodinov das Fernsehen die Bilder des russischen Einmarschs in die Ukraine zeigte, meinte die Tochter des Autors dazu: »Papa, du darfst nicht mehr solche Bücher schreiben.«
Aber so schnell, wie das alles passiert, kann man gar nichts anderes mehr schreiben.
»Die Armeen sind aufmarschiert und warten […] alles hat gewartet, alles hat sich angestaut, um jetzt loszubrechen […] Wir wiederholen diesen Krieg, damit er sich nie mehr wiederholt, wird jemand im Radio sagen [… ] Morgen war der 1. September.«

Georgi Gospodinov, »Zeitzuflucht«, Roman, aus dem Bulgarischen übersetzt von Alexander Sitzmann, Aufbau-Verlag, 339 Seiten. Erschienen am 29. April 2020.