Zu Mittsommer geht’s nach Schweden. Drei Wochen Sprachunterricht. Ab sofort kein Wort Deutsch mehr. Doch »Reisen mit leichtem Gepäck« von Tove Jansson lese ich dann doch lieber in der Übersetzung von Birgitta Kicherer auf dem E-Reader. Und weil ich sowieso schon am Schummeln bin, klaue ich zum ersten Mal im Leben ein Buch.
Dag ett: Ich stehe am Ausleihregal der Litorina Folkhögskola in Karlskrona und scanne die Bände aus den Ostseeanrainern: Finnland, Estland, Lettland, Litauen, Polen, Russland, Deutschland und Dänemark. Das »Ostseeprofil« dieser Folkhögskola beinhaltet den lebhaften personellen und kulturellen Austausch mit den Ländern, die durch den Eisernen Vorhang voneinander getrennt waren. An dieser Einrichtung, die enger als eine deutsche Volkshochschule mit dem staatlichen Bildungssystem verzahnt ist, können Einwanderer nicht nur schwedische Sprache und Kultur kennenlernen, sondern auch die formellen Voraussetzungen für ein Studium erwerben.
Literarische Reise mit Tove Jansson durch Schweden: die Schären (Foto: Martina Takacs)
Weil ich ihren Namen als einzigen wiedererkenne, greife ich nach einem Bändchen von Tove Jansson: »Resa med lätt bagage«. Schwedischlehrerin Linda stellt sich dazu und grinst mir ins Gesicht, als ob sie sagen wollte: »Leichtes Gepäck wäre nett, oder?« Was sie dann tatsächlich sagt, ist: »Nimm nur und stell es zurück, wenn du fertig bist. Wir vertrauen dir.« Das ist ein Fehler.
Tove Jansson: schwer zu fassen – auch für sie selbst
»Es war schon immer mein Traum, mit leichtem Gepäck zu reisen, eine kleine Reisetasche, lässig getragen, mit der man raschen, aber nicht eiligen Schrittes beispielsweise eine Flughalle durchquert, an einer Menge nervöser Menschen vorbei, die sich an schweren Reisekoffern abschleppen – jetzt gelang es mir zum ersten Mal, nur das absolute Minimum mitzunehmen«.
Der Ich-Erzähler in der Titelgeschichte lernt allerdings, dass man sich selbst immer mitnehmen muss, egal wie viel Gepäck man zuhause lässt.
Tove Jansson (1914-2001) war eine Grenzgängerin: zwischen Finnland und Schweden, zwischen »ernster« und »Unterhaltungskunst«, Malerei und Schriftstellerei. Ganz zu schweigen von ihrem Liebesleben, das Geschlechtergrenzen ignorierte. Die deutsche DVD-Fassung der Filmbiografie »Tove« (2020) ist am 8. Juli 2022 erschienen. Die finnische Regisseurin Zaida Bergroth konzentriert sich darin auf die prägende Zeit der 40er Jahre, in denen Tove Jansson die Weichen für ihr Leben und ihre Popularität stellt. Als die Anerkennung für ihre Kunst ausbleibt, entschließt sich Jansson zu Kompromissen und nimmt Auftragsarbeiten für die Stadt und reiche Bewunderer an. Als die eher zufällig entstandenen Mumin-Figuren vor allem bei Kindern den größten Erfolg bringen, ist sie bedrückt und hält den Durchbruch für ein Zeichen, dass sie als »ernsthafte« Malerin gescheitert sei.
Multitasking zu Midsommar: Singen, Tanzen, Wörter suchen
Dag elva: Wir feiern Midsommer. Durch zwei Schwedisch-Intensivwochen am Nordkolleg in Rendsburg bin ich zum Glück gut vorbereitet auf die rituellen Tänze und Gesänge.
Weniger vorbereitet bin ich darauf, verzaubert zu werden durch die mittsommerliche Natur. Schwedische Landschaften sind Metaphern, die sich von alleine mit Bedeutung aufladen. Man braucht nicht viel Fantasie, man muss nur gucken. Doris Dörrie sagt in Interviews zu ihrem Buch »Die Heldin reist«, dass wir leichter staunen können, wenn wir unterwegs sind und dass Staunen der direkte Weg zum Glück sei.
Ich staune ausgiebig. Zum Beispiel über den schönsten Schulhof, den ich je gesehen habe. Gleich hinter dem Unterrichtsgebäude beginnt ein lichter Eichenwald, und nach ein paar Schritten erreicht man das Ufer der Ostsee. Die Natur und das Wasser sind hier allgegenwärtig.
Auch in Tove Janssons Erzählungen bekommt die Natur eine Hauptrolle. Mal zwingt sie den Menschen, seine eigene rohe Natur zu offenbaren wie in »Das Ferienkind«, mal spaltet die Frage, wie mit wilden Tieren umzugehen sei, die Gemeinschaft der Menschen wie in »Die Möven«. Dort, wo die Natur abwesend ist, wie in »Fremde Stadt« führt das zu völliger Desorientierung.
Die Schären: Allgegenwärtige Natur
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Bei Jansson kommen diejenigen Figuren besser weg, die mit der Natur und nicht gegen sie leben. Meistens sind das die leiseren Menschen, die wilde Tiere, den Wald und die Elemente nicht zu beherrschen, sondern zu verstehen versuchen. Die sich im Einklang mit Wind, Schnee und Wasser fortbewegen und mit Skiern oder Booten umgehen können.
Allgegenwärtige See
Gibt es in Deutschland eine Volkshochschule, an der man sein eigenes seetüchtiges Boot bauen kann? Die Båtbyggarlinje der Litorina Fölkhogskola bietet Kursteilnehmern sogar die Möglichkeit, einen Gesellenbrief im Bootsbauhandwerk zu erwerben.
Das urschwedische Thema der unbedingten individuellen Mobilität zu Wasser kam mir immer schon entgegen. Während die Deutschen um Tempolimits auf Autobahnen kämpfen, rasen, segeln und tuckern die Schweden auf ihren Wasserstraßen von Insel zu Inselchen.
Hier in Karlskrona ist das Zentrum der schwedischen Marine. Die ganze Stadt ist vor 340 Jahren für die schwedische Flotte gebaut worden, mittlerweile dient ein Teil der Hafenanlagen und Docks als Bürger- und Camper-Idylle. Noch. Wer weiß, wie lange man am Stadtstrand neben dem Marinemuseum in Zukunft noch baden kann, bevor Soldaten und Kriegsschiffe den Platz wieder für sich beanspruchen.
Bei der Besichtigung der Folkhögskol-Werkstätten bewundere ich die Rohbauten der Boote, aber fahren will ich mittlerweile nicht mehr, egal womit. Ich will hierbleiben. Meine Reisesehnsucht hat sich – für den Moment zumindest – erfüllt.
Als Frau allein in der Welt zu Hause sein
In der Brief-Erzählung »Korrespondenz« zu Anfang von »Reisen mit leichtem Gepäck« geht es um unerfüllte Reisesehnsucht. Während die Erzählerin mehrere Monate ihre Schärenheimat verlassen möchte, plant ihre Verehrerin, eine junge japanische Leserin mit eigenen literarischen Ambitionen, nach Finnland zu reisen, um ihr großes Vorbild einmal in deren Heimat zu besuchen. Beide Frauen haben den Lebenstraum alleine auf Reisen zu gehen. Doris Dörrie beschreibt ihn so: »Als Frau allein in der Welt zu Hause sein, ein ewiger Traum. Davon hat schon Sylvia Plath geträumt. Sie wollte intensive Gespräche mit Fremden führen, auf einem offenen Feld schlafen, nach Westen ziehen und nachts frei herumlaufen.« Manchmal, z. B. bei Sylvia Plath, bleibt es ein Traum.
Zahlreiche Möglichkeiten, es sich schwer zu machen
Mit zärtlicher Genauigkeit entfaltet Tove Jansson eine leise Dramatik in den Beziehungen ihrer Geschichten. Im Helsinki der Nachkriegszeit konnte sie beobachten, wie sich eine Gesellschaft verändert, sobald die grundlegende materielle Sicherheit wieder hergestellt ist. Mit steigendem Wohlstand führen die Menschen ihre Leben wieder in der Gleichförmigkeit selbst zu verantwortender Missgeschicke. In der Titelgeschichte »Reisen mit leichtem Gepäck« wird dieser Effekt so beschrieben:
»Ambition und Traum sind geschrumpft, die Zeit wird rasch immer kürzer, die Familie benimmt sich unbegreiflich und erschreckend, Freundschaften werden ganz nebenbei vergiftet, man beschäftigt sich fieberhaft mit Unwesentlichem, während das Irreparable seinen unaufhaltsamen Lauf nimmt. […] Die Möglichkeiten, sich im Leben unwohl zu fühlen, sind zahllos, und ich erkenne sie alle wieder, sie kommen immer zurück, jede Betrübnis in ihr eigenes kleines Fach«.
Der Ich-Erzähler muss erkennen, dass sich unser Schicksal dadurch erfüllt, wer wir sind und nicht, was wir versuchen zu sein. Es erfüllt sich durch die Begegnungen mit der Sorte Menschen, die wir immer wieder anziehen, während wir womöglich angestrengt versuchen, genau diese zu meiden.
Als Autorin verhält sich Jansson wie eine gutmütige Göttin, die mit liebevollem Humor auf ihre Geschöpfe blickt und sie in alle möglichen, meist selbst herbeigeführten Zwangslagen laufen lässt.
Die Albernheit gesellschaftlichen Verhaltens steht auch in »Der Lustgarten« im Vordergrund, wo komplizierte Aufnahmerituale eine wohlhabende britische Expatriate-Gemeinde in Portugal beschäftigt halten. Ein andermal dominiert das Dystopische (»Shopping«) oder das Unheimliche (»Der Wald«). Jansson steigert gewöhnliche Ferienerlebnisse in ein archaisches Kräftemessen mit dunklen Mächten, wilden Tieren und den Geistern, die man ruft und dann nicht mehr loswird. In »Der Wald« geschieht dies durch ein Buch, nämlich »Tarzan, Sohn des Affen«. Fantasie und Natur gehen im Kind mühelos eine Synthese ein, während sich die Beziehungen der Erwachsenen nicht natürlich entwickeln können.
Suche nach dem Sinn
Auch »Das Gewächshaus« zeigt diese Gesetzmäßigkeit. Die mit großem Aufwand unter Glas gehaltene Natur bietet den Hintergrund für die Begegnung zweier älterer Männer, Josephson und Vesterberg, die sich nichts zu sagen hätten, würden sie nicht ein und dieselbe Sitzbank für sich beanspruchen. Josephson liest Spinoza und erklärt Vesterberg, was ihn antreibt:
»Ich möchte nur ein klares Bild gewinnen, und zwar schnell, ein klares Bild von dem, was man gewollt und versucht hat und was daraus geworden ist. Und davon, was eventuell wesentlicher ist«. Vesterberg hingegen will nur seine Ruhe und höchstens in der exotischen Pflanzenwelt lesen. Die Annäherung der beiden ist mühselig, aber seltsamerweise bleiben sie dran.
Ein wiederkehrendes Motiv in den Beziehungen der Figuren in Janssons Erzählungen ist der Neid auf Menschen mit besonderen Begabungen. Solche, die in Resonanz gehen können mit der Natur, dem Wetter, Tieren, Kindern und, vor allem, der eigenen Schaffenskraft.
Gut gemeinte Annäherung: der Film
Der Film »Tove« ist ein Beispiel dafür, wie die harmlose Version der Annäherung an eine Künstlerpersönlichkeit aussehen kann. Und dafür, wie sich die Nicht-Künstler von heute die Bohème von damals vorstellen. Zu Recht sagt Valérie Dirk im Standard, dass mit Klischees nicht gespart werde. Man sieht schöne junge Menschen mit wässrigem Blick und unordentlichen Haaren, die, Zigarette im Mundwinkel, vor der Leinwand einer spontanen Eingebung folgend, entrückt zu Glenn Miller tanzen oder im Bett liegen mit egal wem. Gesichter und Körper in Großaufnahme prägen über weite Strecken die Bildsprache und können – obwohl berührend und ausdrucksstark – die Geschichte dieser Künstlerin nicht tragen..
Neid auf das Talent, in Verbindung zu gehen
In »Die Frau mit den geliehenen Erinnerungen« entwirft Tove Jansson eine brutalere Variante der Persönlichkeitsaneignung. Eine erfolgreich gewordene Künstlerin kehrt in die Bohème-Wohnung ihrer Studentenjahre zurück und trifft auf die einstige Freundin, die dort wohnt. Diese ist von der Sorte Mensch, die über kein Talent verfügt und die Nähe von Künstlern sucht, um mit deren Vitalität ihr eigenes Ego zu nähren. Der Titel bezieht sich auf die krankhafte Umdichtung der gemeinsamen Vergangenheit, die sich die ehemalige Weggefährtin zurechtgelegt hat. Bis hin zu der Behauptung, ein von der Künstlerin in der Wohnung zurückgelassenes Werkstück habe sie selbst angefertigt: »Was regst du dich so auf! […] Du kriegst es, ich schenke es dir.«
Dag nitton: Es ist Zeit, wieder alles zusammenzupacken und Bilanz zu ziehen. In »Das Gewächshaus« fragt Vesterberg seinen Bekannten: » Josephson, bist du zu irgendeiner Schlussfolgerung gelangt? Hast du in deinen Büchern irgendetwas Wichtiges gefunden?« Josephson wiegelt ab: »Dies und das […] Es braucht seine Zeit, aber das habe ich ja von Anfang an gewusst. Anscheinend haben wir uns nicht gegenseitig überzeugen können. Aber ist das eigentlich notwendig?« Vesterberg verneint: »Man will nur, dass der andere Bescheid weiß und es versteht.«
Irgendwas gelernt?
Eine Reise ist gelungen, wenn wir miteinander ins Gespräch kommen. Egal, mit welchem Ergebnis. Und so resümiert Doris Dörrie als Seitenhieb auf die archaisch-männliche Heldenreise am Ende von »Die Heldin reist«:
»Nein. Ich habe keinen Kampf geführt, nicht dem Drachen ins Auge gesehen, sondern er nur mir. Ich bin keine Heldin, ich bin nur gereist. Ohne Not, ohne dringenden Anlass. Ich bin nicht ausgezogen, um das Fürchten zu lernen. Dies ist keine runde Story. Sie bietet keine Erkenntnis, keinen Erfolg, keinen abgeschlagenen Drachenkopf.«
An Ystad mit seinen Wallander-Sights fahre ich auf dem Rückweg einfach vorbei. Ich bin jetzt keine Touristin mehr. Als ich an Bord der Fähre bin, geht ein britisches Paar im Aufzug selbstverständlich davon aus, dass ich in Karlskrona wohne. „You don’t sound German at all”, rufen sie überrascht. Na klasse! Mein Schwedisch ist nach wie vor radebrechend, aber wenigstens klinge ich nach Schwedin, wenn ich Englisch spreche.
Ich hatte »Resa med lätt bagage« bereits pflichtbewusst an Linda zurückgegeben, als mir einfiel, dass ich vergessen hatte, Fotos zu machen. So wanderte das Buch nochmals zurück in eine meiner Dutzend Taschen und blieb dort, bis ich es in Deutschland wehmütig auspackte.
Jetzt muss ich es zurückschicken, entschließe mich aber stattdessen, für gleichwertigen Ersatz zu sorgen. Als ich den Titel für die Folkhögskola bestelle, freue ich mich, wie viele Bücher mit Erzählungen von Tove Jansson auf Deutsch bei Urachhaus erhältlich sind. Ich scrolle durch die Liste und weiß sofort, was ich als nächstes von ihr lesen werde: »Die ehrliche Betrügerin«.
9. April 2023 um 12:33
Isa, das ist einfach wunderbar. Wie bist du nur auf diese herrliche Idee gekommen. Es ist nun so, dass ich hier auf deiner Site mit Begeisterung gelesen habe und die vorgestellten Bücher nun nicht lesen werde. Bitte mit Augenzwinkern verstehen, denn ich lese nur zu gerne. Zur Zeit fehlt mir nur genau diese und deshalb habe das hier in meiner kurzen Pause sehr! genossen. Danke liebe Isa
9. April 2023 um 16:27
Liebe Anja, danke, dass du überhaupt Zeit gefunden hast hier vorbei zu surfen. Und irgendwann ist dann auch wieder Zeit zum Lesen da. Viel Glück für die »Måleri«, über die ich bestimmt mal schreiben werde. So ein Dala-Pferd-Rohling würde mich spontan zum Selbstversucht reizen, aber bestimmt gibt’s bei dir im Laden noch viel mehr zu entdecken. Glad påsk och har det bra!