Eine Frage der Chemie ist garantiert nicht »Das neue Lieblingsbuch für jede Feministin« –

Das obige Prädikat vergibt LovelyBooks an die Neuerscheinung von Bonnie Garmus, die als Autorin selbst eine Neuerscheinung ist. »Eine Frage der Chemie« ist eher ein Lieblingsbuch fürs Verlags-Establishment.

Das Rezensionspaket entspricht dem Aufwand, den der Piper-Verlag mit diesem Buch treibt: es erscheint in 35 Ländern gleichzeitig. Wer es medientauglich bespricht, bekommt sogar eine retro-Lunchbox aus Metall geschenkt. Ob es, wie im Roman, darin auch Zettelchen mit Mitteilungen gibt, auf denen steht, was sich der Verlag an Formulierungen wünscht, weiß ich nicht.

Die Fast-Frau des Fast-Nobelpreisträgers

Ich schulde es schon den Naturwissenschaftlerinnen in meinem Leben die Fünfzigerjahre-Geschichte der Elisabeth Zott, die als studierte Chemikerin Karriere in einer US-Kochshow macht, auf ihre Geschenk-Qualität hin abzuklopfen. Alle von ihnen haben inzwischen leitende Funktionen in Wirtschaft und öffentlichem Dienst und können einiges davon erzählen, wie schwer es war dorthin zu kommen und sich auf dem erkämpften Posten zu halten. Denen darf ich keine pseudo-feministische Mogelpackung schenken, aber ich fürchte, dann muss ich weitersuchen.

Die Liebesgeschichte der hochbegabten Elisabeth mit dem ebenfalls hochbegabten Calvin Evans hätte ähnlich comedymäßig wie bei »Das Rosie-Projekt« (Graeme Simsion, 2013) oder »Big Bang Theory« daherkommen können, aber massiv aufgefahrene tragische Elemente verhindern das rechtzeitig.

Dabei geht es so nett los. Elisabeth, laut Inhaltsangabe ein »durch und durch rationaler Charakter« erweist sich unter dem Einfluss eines Mannes, der ihr gefällt (selbstverständlich des ersten) als Karikatur der Vernunft. Da gucken wir doch gerne zu, wenn die beiden verknallten Kollegen am Arbeitsplatz krampfhaft ihre Neutralität beschwören: »– This is work. That’s it. – That’s it. And then they gathered their cups and saucers and went off in opposite directions, each desperately hoping the other didn’t mean it.« Hach, ist doch nett! Zumal ich aus Neugierde beim ersten »lecker« auf die amerikanische Orginalfassung umgestiegen bin. Solche Szenen lassen sich in der Fremdsprache viel besser ertragen. Und statt »lecker« heißt es im Original »luscious« und das Wort hat eine deutlichere sexuelle Konnotation.

Calvin and Zott

Die holprige Kennenlern-Phase liest sich ein bisschen wie bei Calvin and Hobbes, wenn der Valentinstag ansteht. Ich erinnere mich an einen Cartoon, in dem Calvin mit Akribie eine Herzchen-Karte für sein Grundschul – Love Interest Susie bastelt. Darauf steht: – Susie, I hate you. Drop dead! Calvin Evans tappt sowohl in der eigenen Gefühlswelt als auch im Umgang mit der Kollegin ähnlich rührend hilflos im Dunkeln. Zotts emanzipiertem Auftreten versucht er entgegenzukommen, indem er ihr, seit er weiß, dass sie keine Sekretärin ist, nicht mehr die Tür aufhält. Auch das kennt die moderne Leserin. Es ist leichter für alle Beteiligten, wenn man so tut, als ginge es nur um Umgangsformen.

Mit der ihr eigenen selbstbestimmten Entschlossenheit erzwingt Zott schließlich die entscheidende Annäherung an den spröden Labor-Eremiten. Das ist aber dann auch für viele Seiten das letzte Zugeständnis an die moderne Leserin von heute. Im weiteren Verlauf werden wir Zeuge der Entwicklung einer perfekten Liebesgeschichte zweier Seelenverwandter, die so in sync sind, dass es natürlich misstrauisch machen muss. Gerne teilen wir die Perspektive mit den voyeuristischen Kollegen in der Caféteria: »– Ring Box, announced one of the geologists. Brace yourselves, kids: engagement in process.«

Zott ist natürlich dermaßen emanzipiert, dass sie den Heiratsantrag der Liebe ihres Lebens ablehnt. Irgendwie unglaubwürdig. Wie Garmus dann die Kurve kriegt zum Zusammenbruch dieser Liebe-auf-Augenhöhe-Idylle ist einfach nur kaltes Plot-Handwerk.

Lebensgeschichten aus dem Reagenzglas

Eine wichtige Zutat zum Versuchsaufbau der Geschichte sind die desaströsen Familienumfelder, aus denen die beiden Protagonisten kommen. Damit werden damit die beiden zur genaueren Betrachtung isoliert – ein stückweit auch vom gesellschaftlichen Zusammenhang der Fünfzigerjahre. Das wiederum dienst dem Identifikationspotenzial bei heutigen Leserinnen: Die zwei werden sozusagen zu universellen Liebenden. Wir Leserinnen, die wir an Kinder, Eltern und Ehen gebunden sind, verfolgen gerne durchs Roman-Mikroskop, was die beiden in der Petrischale denn so an Reaktionen hervorbringen.

Die vernünftigsten Redebeiträge von allen Figuren (einschließlich des denkenden Hundes) hat Pfarrer Wakely. Man solle die Dinge der Vergangenheit in der Vergangenheit belassen, meint er, denn dort sei der einzige Ort, an dem sie Sinn machten. Diese viel zu dick aufgetragene Empowerment-Geschichte aus den Fünfzigern sollte auch dort bleiben. Es wäre viel spannender, einen Gesellschaftsroman über Naturwissenschaftlerinnen der Gegenwart zu lesen. Denn wie Elizabeth Zott ihre Umgebung ständig korrigieren muss (»–But I AM a chemist!«), geht es Wissenschaftlerinnen aller Fakultäten heute auch noch.

Seien wir doch mal ehrlich, Ladies!

Wenn ich mit den Ankündigungen des Klappentextes nicht zufrieden bin, sollte ich vielleicht einen eigenen formulieren. Ok, ich probier’s mal mit einer etwas ehrlicheren Liste der Klischees und Sehnsüchte, die im Buch bedient werden. Also: Sie werden dieses Buch lieben, wenn

  • Sie ein unverbesserliches Teenager-Herz mit einer entsprechenden Gehirn-Chemie und Pippi-Langstrumpf Manieren gegenüber Männern haben
  • Sie immer dann zunehmen, wenn Ihnen gesagt wird, dass Sie mal ein paar Kilo abspecken könnten
  • Sie – im Prinzip – der Meinung sind, dass alleinerziehende Mütter mehr Unterstützung erfahren sollten (oder aber dem Irrtum aufsitzen, das sei heutzutage schon erreicht)
  • Sie sich gerne mal vor Sonnenaufgang inmitten der Natur anders auspowern würden als mit den ewigen to do–Listen. Beim Rudern z.B.
  • Sie es bereuen Ihre naturwissenschaftlichen Neigungen nicht verfolgt zu haben – womöglich aus Rücksicht auf einen Jungen in Ihrer Klasse, den Sie nicht einschüchtern wollten
  • Arbeitgeber Ihretwegen Stoßgebete formulieren wie Zotts TV-Redakteur Walter? (»– Now, please be normal!«)
  • Ihnen »Der Gesang der Flusskrebse« gefallen hat. Das Übersetzer-Duo (Ulrike Wasel und Klaus Timmermann) ist dasselbe und hat nicht nur ein sicheres Händchen für Sprache, sondern auch für Ihre Gefühlswelt
  • Sie bei der ein oder anderen Unterredung mit Vorgesetzten, wie dem sexistischen Produzenten Lebensmal, gerne mal ein 35cm langes Tranchiermesser aus der Tasche gezogen hätten

Altmodisch und dennoch in guter Gesellschaft

Elke Heidenreich teilt in ihrer Spiegel-Video-Besprechung vom 17.4.22 ihre Begeisterung für die Messerszene, die albernerweise im Buch sogar zweimal verhackstückt wird. Das überrascht mich – bei allem Verständnis für ihre eigenen angestauten Aggressionen gegenüber früheren Arbeitgebern.

»Ein Vorbild für heutige Frauen«. Ach ja, wirklich?

Heidenreich behauptet, sie habe im Verlag angerufen um sich zu erkundigen, ob es Zott wirklich nicht gegeben habe. Sie wirke doch »so lebendig«. Dass ich nicht lache! Die Heidenreich, die ich bewundere, hat bei Piper angerufen und gefragt: »Was soll der Quatsch? Ich BIN erfolgreiche Literaturkritikerin und das seit Jahrzehnten. Ich habe mir davon ein Haus mit Garten in einer der besten Wohngegenden Kölns gekauft und ihr wollt mich mit einer Brotzeitdose aus Blech bestechen?«

Das altbackene Titelbild der deutschen Ausgabe hat seine wohlkalkulierte Berechtigung, denn es löst bei den Käuferinnen einen angenehmen Überlegenheitsreflex aus (»Guck mal, was die für einen Rock anhat! So einen hatte meine Mutti auch«). Gerade so, als hätten wir die Zeiten, die optisch signalisiert werden, weit hinter uns gelassen. Aber die Figur der Elizabeth Zott ist eben nicht lange her und weit weg. Die unbewussten Gedankenmuster haben sich nicht so gravierend verändert, wie wir uns das im Jahre 2022 (angeblich) wünschen. Sie sind nur durch massiven political correctness – Druck immer weiter ins Subtile und Unbewusste gedrängt worden. Sexismus ist nicht Sache von ein paar herausragenden Widerlingen. Er ist eine gesamtgesellschaftliche Übereinkunft und als solche sehr stabil.

Im Anschluss an Heidenreichs Video-Besprechung kommt, wie immer, die Spiegel-Bestsellerliste. Die sexy Frauenstimme aus dem Off formuliert eine Einleitung zu Bonnie Garmus, wie sie auch Producer-Ekel Lebensmal gefallen hätte: »Im Roman träumt die alleinerziehende Elizabeth davon, Chemikerin zu werden …« Quod erat demonstrandum.

Bonnie Garmus, Lessons in Chemistry, englischsprachige Kindle version. Herausgeber: Transworld Digital (5. April 2022). Seitenzahl der Printausgabe: 392