Der diesjährige georgische Unabhängigkeitstag markiert das Ende meines Haratischwili-Selbstversuchs. Ich will herausfinden, welches Medium »Das mangelnde Licht« für mich am besten transportiert. Ich lese auf dem E-Reader und lege auf langen Autofahrten das Hörbuch ein. Und am 26. Mai sehe ich mir abschließend im Hamburger Thalia Theater die Bühnenfassung an.
Lesen während der Fliederblüte
Die beste Zeit »Das mangelnde Licht« zu lesen ist die Fliederblüte. Der schwere Duft, im 16. Jahrhundert aus Südosteuropa importiert, begleitet sowohl meine Lektüre, als auch das Aufwachsen der Hauptfiguren Dina, Keto, Ira und Nene. Die vier Freundinnen oder, präziser, drei Freundinnen und eine Liebende, sind Anfang der Neunziger Klassenkameradinnen und Bewohnerinnen eines Vielvölker-Hinterhofs in Sololaki, einem Tbilisser Viertel, das bessere Zeiten gesehen hat.
Hörbuch »Das mangelnde Licht«, die ungekürzte Lesung von Simone Kabst
Die Erzählung beginnt damit, dass die Vierzehnjährigen nachts in Schuluniform in den Botanischen Garten von Tiflis einbrechen und ein Bad im Wasserfall nehmen. Während die draufgängerische Dina die Gruppe anführt, lässt sich die eher besonnene und sensible Keto am liebsten von Dina führen, und die stets vernünftige Klassenbeste Ira hat immer ein Auge auf die mädchenhaft-naive Nene.
Eine Zeit wie ein »falsch abgeschossener Pfeil«
Vom Schicksal auf verschiedene Länder verteilt, treffen sich drei der Freundinnen 2019 in Brüssel zu einer hochkarätigen Retrospektive für die vierte. Das Lebenswerk der verstorbenen Fotografin Dina Pirveli wird gewürdigt.
Ihre beste Freundin aus Kindertagen, Keto Kipiani, ist eine international gefragte Restaurateurin geworden und Streberin Ira Jordania eine erfolgreiche Anwältin in den USA. Nur Nene Koridze hat unter dem Diktat ihres mächtigen Onkels und Clan-Chefs ihr Leben in Georgien und Russland verbracht.
Die vier stehen stellvertretend für Tausende georgischer Jugendliche, deren Chancen durch den Krieg zunichte wurden und die spürten, dass »die Zeit sich gegen uns gewendet hatte wie ein falsch abgeschossener Pfeil«.
Das »mangelnde Licht« im Titel ist vor allem ein Mangel an Helligkeit und Hoffnung in die Zukunft. Besonders die Winter sind hart. Als Keto sieht, wie die Deutschnachhilfeschülerin ihrer Großmutter lesend im Schneeanzug auf einer Leiter unter der Zimmerdecke hockt, weil es dort etwas wärmer ist als in Bodennähe, weiß sie: »Wir hatten sie, diese kleine Maria, um ihre Zukunft betrogen. Wir alle logen sie an. Wir ließen sie Hölderlin pauken, während wir Granaten abwarfen, alle Schönheit in Brand setzten […]«
Als ich 14-jährig in schönster Achtklässlerinnenschrift die Namen aller Verwaltungseinheiten der UdSSR in mein Erdkundeheft schreibe, wird der georgische Unabhängigkeitstag nicht gefeiert. Unter 7. steht in der Liste: Georgische Sozialistische Sowjetrepublik, Hauptstadt: Tiflis. Nach der Oktoberrevolution hatte sich Georgien, das unter russischer Herrschaft stand, am 26. Mai 1918 zum ersten Mal als »Demokratische Republik Georgien« für unabhängig erklärt. Ein Versuch, der, wie bei Aserbaidschan und Armenien, bald wieder in den Anschluss an die UdSSR mündete.
Nach deren Zusammenbruch, siebzig Jahre später, kam erneut die historische Chance. Aber Angriffe des russischen Militärs, ein Putsch und eine Reihe frei gewählter, aber unfähiger Politiker stürzten das Land Anfang der Neunziger ins Bürgerkriegs-Chaos. Selbst Eduard Schewardnadse, Georgier und ehemaliger Außenminister der Sowjetunion, konnte das Machtvakuum nicht füllen und so nahm das Unglück in Form von Bandenkriegen ihren Lauf. Schutzgelderpressungen, Selbstjustiz und billiges Heroin aus Afghanistan löschten die Hoffnungen und Leben von zwei Generationen Georgiern aus.
Die Bilder und das Verstehen
Erzählerin Keto nähert sich den Fotos ihrer toten besten Freundin mit einer Mischung aus Scheu und Neugierde, mit Verdrängen und Dennoch-wissen-Wollen. Es ist ihr unangenehm, wenn die Brüsseler Vernissage-Gäste sie mit »Das sind doch Sie auf dem Foto!«-Rufen aus der Erinnerung holen. Vor einem Selbstporträt Dinas mit dem verzweifelten Titel »Betäube mich« geht die Wut fast mit ihr durch. »Ich möchte ihr am liebsten ins Gesicht spucken, für sie sind diese Bilder nichts weiter als eine Geldanlage. Für uns sind sie zum Gegenstand gewordener Beweis unseres demolierten, verwundeten Lebens. […] Ja, Dina hatte einen feministischen Ansatz, an diesem Abend übrigens ganz besonders, und ihr feministischer Ansatz, ihr theoretischer Überbau waren Klappmesser und Stuhlbeine«.
Keto hat das Gefühl, dass die Fotos ein Geheimnis bergen, sie sucht nach Hinweisen, einer Nachricht von Dina vielleicht aus der Zeit ihrer Kindheit »bevor man sich an den Anblick feuchter Februarerde, die sich mit Hirnmasse mischt, gewöhnen musste.«
Dina fotografiert manisch, seit sie die Kamera von Ketos früh verstorbener Mutter geschenkt bekommen hat, und später helfen die Fotos auch ihren Betrachtern. Gio, einer der »autodidaktischen Kämpfer«, den Dina beim Fotografieren auf den Schlachtfeldern Abchasiens (wieder-)trifft, sagt später zu ihr: »Erst durch dich habe ich kapiert, was wir durchgemacht haben.«
Die Stadt der Jungs
Brüchig-ambivalente Männlichkeit kennzeichnet in »Das mangelnde Licht« sowohl die Vätergeneration, vertreten durch Ketos hilflosen alleinerziehenden Vater, als auch die der Söhne.
Ketos spätere Partner verkörpern ansatzweise den Versuch einer erweiterten Vorstellung von Männlichkeit. Lewan spielt heimlich seine armenische Flöte, eine Duduk, streut Keto zu Ehren duftenden Flieder in den Hof und prahlt, er könne »super stricken«. Um diese Annäherung an ihre Weiblichkeit umgehend auszugleichen, zeigt er ihr eine Pistole unter seinem Bett, die er für »die Bande« verwahren darf. Als wolle er sichergehen für den Fall, dass Keto doch eher auf traditionelle maskuline Muster steht.
Das Kämpfen, erklärt man mir schon bei der ersten Stadtführung in Tblissi, ist Teil der kulturellen DNA der Georgier. Ringen ist Nationalsport und გამარჯობა (gamardschoba) heißt nicht einfach nur »hallo«, sondern wörtlich: »Sei siegreich!«
Als Keto nach dem Schulabschluss an der Kunstakademie aufgenommen wird, um Restaurateurin zu werden, bekommt Lewan massive Minderwertigkeitsgefühle. Prompt trifft Keto durch ihre Arbeit jemand anderen, der noch eindeutiger den Typen des Anti-Machos verkörpert. Reso, der mit einer alleinerziehenden, psychisch kranken Mutter aufgewachsen ist, begleitet sie über Jahre durch mehrere Länder, prägt und unterstützt sie beruflich, finanziell und emotional. Aber ihren Sohn bekommt sie dennoch von jemand anderem.
Haratischwili betont in ihren Interviews, dass es besonders die jungen Männer sind, die zu den eigentlichen Verlierern im Georgien der Neunzigerjahre gehörten. Sie vergeudeten ihre Jugend mit den Deals und Kämpfen ihrer rivalisierenden Banden auf den Straßen Tbilissis und kamen nicht selten dabei ums Leben.
Tbilissis härteste Gang
Die Freundinnen hingegen haben überlebt. Sogar diejenige, die nicht überlebt hat. Dinas Werk ist nun ihr strahlendes, sichtbares Vermächtnis. Erzählerin Keto vermisst ihre Freundin besonders schmerzlich und es » […] vergeht kein Tag, an dem ich dich nicht weiterleben lasse, dich nicht in meine hinzugekommenen Jahre einwebe. Auf diese Art gehörst du mir, deine Zukunft gehört mir, ich kann dich mit Glück überschütten, kann dich Triumphe feiern und dich alles nachholen lassen, was dir versagt blieb.«
Zunächst scheint gerade für die burschikose Draufgängerin Dina das Verhältnis von Jungs und Mädchen noch ein ausgewogenes Spiel zu sein, in dem jede Seite ihre typischen Machtmittel einsetzt. Wer Elena Ferrantes Lila mag, wird Dina lieben. Sie hat ihre Umgebung im Griff und bringt mit ihren Rock-’n’-Roll-Künsten sogar Ketos renitenten Bruder Rati dazu, die Schule ordentlich abzuschließen. Aber bald kippt das Gleichgewicht und die Mädchen werden in der Hektik der Gefechte entweder ignoriert oder zu Spielbällen von patriarchalischen Clan-Interessen. Sie sind nur noch die »Goldfische«, denen die Jungs »Aquarien bauen«.
Als in der Stadt der erste Schuss des Bürgerkriegs fällt, sitzen die vier Freundinnen im Mtatsminda-Vergnügungspark hoch über der Stadt auf dem Riesenrad fest. Der Strom ist mal wieder ausgefallen, aber jede hat etwas zu Essen mitgebracht und so veranstalten sie ein üppiges georgisches Picknick und tauschen Neuigkeiten aus. Es sind die letzten Momente, in denen sie noch glauben, ihrer Stadt und den Umständen das Leben abringen zu können, das sie sich erhoffen. »Dina erhob sich, breitete die Arme aus, atmete die Luft ein und schrie aus der Gondel: – Schau her, Tbilissi, hier sitzt deine härteste Gang, schaut alle her!«
Zu dem Zeitpunkt ist das Fotografieren für Dina schon lebensnotwendig geworden, eine Konstante, an der sich auch Keto festhält. »Das Klicken der Kamera hatte etwas Beruhigendes für mich, war das einzig Vertraute an der ansonsten so neuartigen Geräuschkulisse, die uns umgab, die überwiegend aus Schüssen und Männerstimmen bestand, als wären alle Frauen, alle Kinder, alle Tiere schlagartig in einen tiefen Schlaf gefallen.«
Während Keto irgendwann der Augenzeugenschaft der Gewalt nicht mehr gewachsen ist und anfängt, sich zu ritzen, fährt Dina dem Krieg sogar nach Abchasien hinterher, wo sie als Einzige ihrer Crew mit dem Leben davonkommt.
Heute so cool wie Prag und Budapest
Georgien hat es geschafft, sich zu stabilisieren, und aus Tiflis ist spätestens in den 2010ern eine attraktive Stadt geworden. Es gibt günstige Mieten, funktionierende Infrastruktur, Sicherheit auf den Straßen, eine anregende Nacht-Szene, viele Künstler und noch mehr »Expatriates«, vor allem US-Amerikaner. Der Tourismus im ganzen Land (außer natürlich in Abchasien und Süd-Ossetien) läuft wunderbar.
Als ihr Sohn 2019 plant, von Deutschland nach Georgien zurückzukehren, formuliert Keto einen ähnlichen Gedanken wie ich, als mein Sohn ankündigte, er werde sein FSJ an einer Schule in Tbilissi absolvieren. »Ja, wieso denn nicht? Tbilissi ist kein Ort der Kerzen und Petroleumlampen mehr, kein Ort der Messerstechereien und Kalaschnikows, kein Ort der Sperrstunden und der eisigen Wohnungen und der sinnlos herausgerissenen Leben. Jetzt ist die Stadt »hip«, jetzt wollen alle hin, weil es dort verruchte Clubs und eine pulsierende Künstlerszene gibt, ein Ort, an dem der Westen seinen Durst nach dem »Authentischen« stillen kann«.
Über den Krieg, stelle ich bei meinen Besuchen fest, wird nicht viel geredet, über die Heroinkrise gar nicht mehr und Ketos Stadtviertel Sololaki ist jetzt mega-hip.
Bei meiner dritten Georgien-Reise 2018 lerne ich das E-Book-Format durch Haratischwili erst richtig zu schätzen. Ich lese »Das Achte Leben (für Brilka)« (1279 Seiten) und kann meine Lektüre sogar mit ins Gebirge nehmen.
Die Mehrdeutigkeit des Kaukasus
Trotz des Volumens ihrer letzten drei Romane praktiziert Haratischwili die disziplinierte Variante des Ausuferns. Sie fabuliert weder drauflos, noch passt sie sich westlicher Lakonie an. Ihre dicken Bücher schlagen vielmehr eine moderne, überdachte Fußgängerbrücke zwischen Geschichte und Gegenwart, zwischen Kaukasus und EU, auf der man bequem hin und her wandeln und auch mal stehenbleiben und sich unterhalten kann.
In ihrem Nachwort zu dem 2016 neu aufgelegten Roman »Ali und Nino« (1937) von Kurban Said schreibt sie über ihre Vision von der Kaukasusregion als einen Ort »an dem der Zauber dieser Nahtstelle zwischen Orient und Okzident lebendig ist und das wahre Erbe des Kaukasus fortleben kann: die Freiheit, sich nicht entscheiden zu müssen zwischen Ost und West, sondern sich genau über diese Vielfalt definieren zu können.«
Auch wenn ihre Romanfiguren brutalem Anpassungsdruck ausgesetzt sind, zeigt sie an ihnen die Widerstandsfähigkeit, die durch eine solche Nicht-Festlegung auf individueller Ebene entsteht. Aber Weltgeschichte entwickelt sich nicht linear und 2022 scheint diese Freiheitsvision weiter entfernt als vor einigen Jahren.
Von der Vergangenheit rechts überholt
Der russische Februar-Angriff auf die Ukraine platzte sowohl in die Buchvorstellung als auch in die Theaterpremiere am Hamburger Thalia am 26.2.22. Eine gruselige ungeplante Aktualität, die mit auf der Bühne steht.
»Das mangelnde Licht« ist die dritte Roman-Adaption von Jette Steckl. Die Regisseurin und Haratischwili haben zusammen studiert und sind befreundet und das ist vielleicht ein Nachteil. Das Stück wirkt, als traue es sich nicht aus seiner Vorlage heraus. Dadurch kann ich mich auch nicht vom Text befreien und achte haarspalterisch auf Details (War Nene nicht blond? Muss ich nochmal nachlesen.). Durch E-Book und Hörbuch habe ich eine ziemlich gute Textkenntnis, was mich jetzt eher behindert, aber den Effekt kennt man ja von Literaturverfilmungen. Echten Film-/Theaterliebhabern sei empfohlen die Bücher erst nach der Aufführung zu lesen.
Werkgetreue Akzente
Auch wenn das Stück mir vorkommt wie ein viereinhalbstündiges Zitat, spielen Lisa Hagmeister (Keto), Maja Schöne (Dina), Rosa Thormeyer (Nene) und Fritzi Haberlandt (Ira) die Viererbande genau so, dass sie zu hinreißend lebendigen Persönlichkeiten werden. Dass die unterschiedlichen Iaschwili-Brüder Saba und Lewan beide von Jirka Zett gespielt werden, sozusagen als zwei Seiten derselben Medaille, stört mich zunächst. Bei näherer Betrachtung trifft diese Darstellung aber genau die Schilderung von zweischneidiger Männlichkeit im Buch.
Das Bühnenbild von Florian Lösche besteht aus schwenkbaren Wänden, die mit pixelähnlichen bunten Quadraten versehen sind. Sie entstanden in der Werkstatt von Videokünstler Zaza Rusadze aus »optisch geschredderten traditionell-georgischen Teppichen«, wie Dramaturgin Emilia Heinrich erklärt. Auf diese Wände werden Porträts in Großaufnahme und Original-Dokumentarclips von Panzern und Demonstrationen auf dem Rustaveli Boulevard projiziert. Zumindest für die ersten paar Reihen im Parkett funktioniert das nicht, da die doppelte Unschärfe dazu führt, dass nichts erkennbar ist und nur der Sound raten lässt, was auf den Wänden zu sehen sein könnte.
Ein Theaterstück wie eine georgische Supra
Überhaupt ist der Klang die eigentliche Stärke des Stücks. Die Musik, z.B. beim georgischen Hochzeitstanz oder Dinas Rock-’n’-Roll-Einlage gibt es nur auf der Bühne. Sie erweitert mein Erleben der Geschichte und verstärkt ihren Fest-Charakter. Mit viereinhalb Stunden ist das Stück fast so lang wie eine Supra, ein georgisches Festbankett.
Sinnenwirksam wird das Publikum außerdem den im Krieg alltäglichen Stromausfällen unterzogen. Der Titel des Romans bezieht sich auch auf die Dunkelheit der Mangelwirtschaft und der Notstrom-Generator auf der Bühne macht nicht nur Lärm, sondern riecht auch unangenehm nach Treibstoff.
Steckl weiß, welche Stellen Haratischwili besonders wichtig sind. Und so wird das eine Mädchen im Schneeanzug, das auf einer Leiter ihren Hölderlin liest, in dreifacher Ausführung auf die Bühne gesetzt. In den Vordergrund rücken auch die Babudas, die Kipiani-Großmütter mit ihren nie endenden Streitereien. Ihre Kontroverse um den »radikalen Esoteriker« Swiad Gamsachurdia demonstriert, wie Politik die Bevölkerung und Familien spaltet, und das ist ein top-aktueller Akzent.
Das ganze Leben dazwischen
Bei einer georgischen Supra werden die Toten in die Trinksprüche mit einbezogen und geehrt. Die Dankbarkeit selbst am Leben zu sein steht im Vordergrund dieser ausufernden Zusammenkünfte. Wie alle großen Feste hierzulande, sollen sie Verbundenheit herstellen und Bündnisse erneuern. Ausgerechnet Nene, die auf Geheiß ihrer Verwandten ihr ganzes Leben in Tiflis und Moskau verbringen muss, bewahrt sich letztendlich diese Mentalität am besten. Sie pocht auf die Glücksmomente und die Liebe zwischen den Katastrophen. Auf Ketos Resignation antwortet sie mit der Botschaft dieses Romans. »Welche Liebe? […] Wie wäre es mit unserer? fragt sie leicht brüskiert und sieht mir direkt in die Augen. Ich senke den Blick.«
Unsere Rettung ist die Ahnungslosigkeit
Nach der Ausstellungseröffnung ist es Ira, die Anwältin aus den USA, die den Freundinnen spätnachts einen verbotenen Weg in den Botanischen Garten Brüssel zeigt. So bleibt der freche Einbruch in die duftende Pflanzenwelt die tröstende umarmende Konstante des Romans. Während des gemeinsamen Bades unter der Fontäne kommt das Tageslicht wieder und holt die letzte im Dunkeln hockende Erinnerung Ketos hervor.
Mein persönlicher Gewinner im Vergleich E-Book/Hörbuch/Theaterstück ist das ungekürzte Audio-Buch. Simone Kabst liest 25,5 Stunden lang um die 20 verschiedenen Rollen, und ich frage mich, wie sie das geschafft hat.
Bei jedem Epochenwechsel aus den Erinnerungen Ketos zurück zur Brüsseler Ausstellung entfährt mir ein tiefer Seufzer, als hätte ich es mit großer Anstrengung gerade noch zurück in unsere EU-Gegenwart geschafft.
Mir ist rätselhaft, wie ich bei den vielen Autobahn-Tränen, die das Hören begleiteten, sicher an mein Ziel geglitten bin. Jeder Stau, jede Gefahrensituation schien mir nichtig angesichts der Schilderungen aus dem georgischen Banden- und Geschlechterkrieg. Und vielleicht auch ein bisschen angesichts meiner Erinnerung an die todesverachtende Fahrweise der Tbilisser.
Die Hingabe an das Schicksal mit seinen Unwägbarkeiten ist der Fluchtpunkt von »Das mangelnde Licht«. Die Einsicht, »dass es dem Leben manchmal vollkommen egal ist, für wen oder für was man sich entscheidet, dass es lachhaft ist, einander Versprechen zu geben, da die einzige Sicherheit, die wir besitzen, die absolute Ahnungslosigkeit davon ist, was uns bevorsteht.«
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