Daniel Glattauers neuer Roman ist »doppeltes Warten« in Echtzeit –

Ich-Erzähler Eduard Brünhofer, Schriftsteller, fährt von Wien zu einem Termin nach München. Die Frau im selben Abteil wie er ist zunächst zwar nur sein »Schräggegenüber«, aber »Im Grunde ist unser Abteil hermetisch abgeriegelt und von der Außenwelt abgeschnitten. Kurzum: Keiner wagt es, uns nahe zu kommen, keiner will bei uns sitzen, und das ist gut so.«

Das erinnert an Hans Magnus Enzensbergers bissig-unterhaltsamen Kurz-Essay »Fremde im Zug« von 1992 zum Territorialverhalten Bahnreisender. Glattauer spielt sowohl mit den äußeren wie auch den seelischen Grenzen der beiden Gesprächspartner und – vorübergehend – auch mit Abteil-Eindringlingen wie einem italienisch anmutenden Mitreisenden (sozusagen ein doppelter Migrant) und dem Schaffner, den Brünhofer, der seine Bücher ständig erklären muss, um dessen Lizenz zum bedeutungsvollen Schweigen beneidet. »Im nächsten Leben möchte ich Schaffner sein. Man muss kaum ein Wort reden, und alle wissen, worum es geht und was zu tun ist.«

Das Schräggegenüber, Catrin Meyr, eine Physio- und gleichzeitig Psychotherapeutin, beginnt ein Gespräch mit ihm und umzingelt ihn mit immer intimer werdenden Fragen. Er versucht im Gegenzug auch etwas über ihr Privatleben zu erfahren, hört mit wachsendem Interesse zu und macht sich seine Gedanken (»Scheint eine klassische Novemberbeziehung gewesen zu sein, die über die finsteren Monate auf Eis gelegt wurde und im März dahinschmolz, als man sie aufzutauen versuchte.«).

Strukturiert wird das Ganze wie eine normale Bahnfahrt durch die einzelnen Stationen zwischen Wien und München mit den inzwischen dazugehörigen außerplanmäßigen Verzögerungen. »Man wartet ja bereits im fahrenden Zug, nämlich dass man endlich ankommt. Im stehenden Zug wartet man, dass man endlich wegfährt, damit man in weiterer Folge endlich ankommt. Es ist also doppeltes Warten, doppelt unangenehm.«

Den Wirklichkeitsgehalt der Geschichte kann man nicht leugnen. Was als anregendes Kennenlernen mit witzigen selbstironischen Beobachtungen beginnt, entwickelt sich in Echtzeit mitunter mühsam auf einen, man ahnt es, Plot-Twist hin. Es würde mich nicht wundern, wenn die Lesenden ab der Hälfte des Romans, genau wie die Protagonisten, zum ersten Glas Bordeaux greifen, um den Rest der Fahrt auch noch hinter sich zu bringen.

Hier die SRF-Literaturclub-Besprechung von »In einem Zug« (ab 3’16’’).
Thomas Strässle tut sich schwer mit der seichten Unterhaltung, während Elke Heidenreich Glattauer tapfer verteidigt.

Daniel Glattauer, »In einem Zug«, Roman, DuMont, 208 Seiten. Erschienen am 13.1.2025.

Daniel Glattauer, »In einem Zug«, ungekürztes Hörbuch, gesprochen von Christian Berkel, DuMont Audiobook, 5 h 28 min. Erschienen am 9.1.2025.