Gabor Matés »Myth of Normal« ist eine Anleitung zum Überleben und Kinderkriegen in toxischen Zeiten –
Psychische Auffälligkeiten sind die normale Reaktion auf eine denaturierte Gesellschaft. So die Hauptthese von »Myth of Normal«, das Gabor Maté in Zusammenarbeit mit seinem Sohn Daniel geschrieben hat. Diese Kooperation ist eine gute Idee, wenn man, wie Maté, ein gravierendes Problem in westlichen Gesellschaften in der Korrosion von normalen Elterngefühlen (»parenting instincts«) sieht. Im Kapitel darüber, wie wir uns zunehmend selbst entmenschlichen (»The Distortion of Human Development«) schreibt Maté, dass Kinder in der westlichen Welt großzuziehen sei wie »Gartenbau auf dem Mond« zu betreiben.
Weil es ein ganzes Dorf braucht, um ein Kind großzuziehen, hat die Kern-Kleinfamilie alleine noch nie funktioniert. Scheidungen und Patchworkfamilien sind eine normale Reaktion und der Versuch, Druck aus den Hauptakteuren zu nehmen und auf mehrere Schultern zu verteilen.
Die klassische Mittelstandsfamilie in einer modernen westlichen Industrienation wie der unseren sieht so aus: Er soll möglichst Vollzeit arbeiten und danach noch im Haushalt helfen, die Wäsche waschen, Rasen mähen und die Geschirrspülmaschine ausräumen, bevor er den Kindern zur guten Nacht vorliest. Sie soll zumindest Teilzeit arbeiten, dann schnell einkaufen, Mittagessen machen, Weihnachtskarten schreiben, auf Elternabende gehen, Hausaufgaben assistieren, Elternhefte kontrollieren, Musikschul- und Sporttaxi machen, danach noch gleich das Abendbrot und anschließend noch eine Granate zwischen den Bettlaken sein, die sie dann vor Arbeitsbeginn am nächsten Morgen noch schnell in die Waschmaschine stopft. Es ist zuviel. Für beide. Und für die Kinder sowieso. Der absurde Leistungs- und Vergleichsdruck setzt Kinder aufs Gleis für emotionale Magersucht (für die echte Magersucht ja sowieso).
Die meisten Frauen entwickeln unter dem Druck, alle negativen Einflüsse liebevoll abpuffern zu müssen (»Society’s shock absorbers«) ein völlig unrealistisches Selbstbild (»assaulted sense of self«), wie Maté einen Kollegen zitiert. Überhaupt ist dieses Buch insofern erfrischend uneitel, dass Maté über die Theorien und Erkenntnisse seiner Kolleg:innen, auch aus benachbarten Disziplinen, ausführlich informiert und ihnen Respekt zollt. Sehr sympathisch, wie ich finde.

Ausgesprochen nützlich finde ich auch Matés Video-Präsenz auf Youtube-Kanälen zu der Frage, warum unsere moderne Gesellschaft ganz besonders Männer krank, einsam und abhängig macht und »how in this society the worst of us gets nourished, and the best of us gets suppressed«. Besonders witzig an einem Video mit Tom Bilyeu ist, dass der Moderator als Empowerment Trainer selbst ein Einzelkämpfer der populären »ironclad will power« -Fraktion ist und den Erkenntnissen Matés (»humans are wired for attachment«) streckenweise etwas hilflos gegenübersteht.
Den kontrollberauschten westlichen Männern, die ihre Körperfunktionen mit Smart-Watches und Disziplin-Apps überwachen, attestiert Maté eine Fehlschaltung. Die Lösung werde dort gesucht, wo das Problem liegt: beim Funktionieren als Leistungsträger – und sei es nur beim Krafttraining. Das Problem unserer Gesellschaft sei aber ein massives Zärtlichkeitsdefizit. Die neurophysiologische Notwendigkeit von Zuwendung, Berührung und Kooperation werde unterdrückt und Menschen dadurch egozentriert, einsam, und – so ergänze ich jetzt mal eigenmächtig – auf lange Sicht anfälliger für Manipulierer, Verschwörungstheorien und Sekten.
Zurück zu »Myth of Normal«. Im letzten Abschnitt »Pathways to Wholeness«, dem »Lösungsteil«, der in keinem optimistischen Psycho-Ratgeber fehlen darf, wird auf die bewährte Arbeit an internalisierten Glaubenssätzen gesetzt. Und auf die Umprogrammierung auf Grundlage der Einsicht, dass diese Leitlinien im Erwachsenenleben nicht mehr zielführend sind. Das kennt man schon aus der umfangreichen verhaltenspsychologischen Ratgeberliteratur seit den Neunzigern.
Ein kleiner Unterschied beim Kapitel »Seeing is disbelieving« bei Maté ist, dass man den falschen Reflexen gebührend Anerkennung dafür zollen sollte, dass sie früher einmal eine wichtige Funktion erfüllt haben. Im Falle schwer dysfunktionaler gewalttätiger Familien eventuell sogar das Überleben sicherten. Ein bisschen erinnert mich diese Vorgehensweise ans Aufräumen mit Marie Condo, bei dem man sich auch dankbar verabschiedet von den Dingen, die nicht bei einem bleiben dürfen.
Die spirituelle Komponente von seelischem Gesundwerden lässt Maté nicht nur gelten, sondern schreibt dem Zugang zu einer höheren Macht auch die (mittlerweile nachgewiesenen) Heilkräfte zu. Ein Kapitel befasst sich mit der Therapie unter Zuhilfenahme von bewusstseinserweiternden Drogen wie Ayahuasca und MDMA. Bei entsprechend verantwortungsvoller ärztlicher Begleitung könnten diese zu Durchbrüchen in der Psychotherapie führen, weil sie bisher verschlossene Traumabereiche zugänglich machten. Die Erkenntnis ist natürlich nicht neu, aber Maté setzt sich ausdrücklich für solche Ansätze ein, die in vielen Ländern halb-legal sind und unterfüttert dies mit entsprechenden Erfahrungen an sich selbst.
Überhaupt ist es ein großes Verdienst von »the Myth of Normal«, dass Sucht und Drogengebrauch in ein anderes Licht gerückt wird, als das zu Zeiten von Nancy Reagan mit ihrem stupiden Motto »Just say no!« üblich war. Maté lässt auch prominente Süchtige sprechen, die im Rampenlicht der Unterhaltungsindustrie stehen und sehr wohl den Durchblick haben, weshalb sie Substanzen missbrauchen. Musiker Dave Navarro sagt, der Rausch gebe ihm eine Ahnung davon, wie es sein könnte, sich als Mensch zu fühlen. Maté dazu trocken: »Try saying no to that«.
Gabor Maté (with Daniel Maté), »The Myth of Normal. Trauma, Illness & Healing in a Toxic Culture«, Penguin Random House, 497 Seiten, 2022.
Schreibe einen Kommentar