»Fast wie ein Bruder« von Alain Claude Sulzer liest sich seltsam nüchtern –
Das Motiv konnten nur Frank und er kennen. Der Ich-Erzähler starrt auf eines der Gemälde, das mit dem Nachlass seines Kinderfreundes per Schiff aus den USA gekommen ist. Er hat damals zwar die überbordende Produktivität und das künstlerische Selbstbewusstsein erkannt, aber noch nicht, dass Frank ihn liebte.
Das geschieht erst viele Jahre später, als die Bilder auf ungeklärte Weise in einer Ausstellung auftauchen. Ihre Entdeckung führt zu einer völligen Neubewertung der gemeinsamen Kindheit. »Ich blickte nicht auf irgendeine Hecke, sondern auf die Hecke, auf die wir als Kinder von unserem Balkon aus auf die Schrebergärten geschaut hatten, und auf das, was sich dort zwischen den Büschen an Unerlaubtem tat.«
Die beiden Nachbarjungen wachsen gemeinsam in einer kleinbürgerlichen Siedlung im Ruhrgebiet auf, deren einzige Besonderheit darin besteht, dass auch Roma und Sinti sie bewohnen. In den frühen Siebzigern eine jener Volksgruppen, von der Eltern meinten, sie seien »kein Umgang« für uns.
Um das Wort »Zigeuner«, das Sulzer im Sprachduktus dieser Zeit durchgängig benutzt, hat es im Vorfeld viel Wirbel gegeben. Der bürokratische Aufruhr drehte sich natürlich nicht nur um political correctness, sondern auch um Geld. Sulzer sollte Zuwendungen aus der Basler Kulturförderung erhalten und wurde aufgefordert, das Z-Wort zu vermeiden. Er lehnte dies aus künstlerischen Gründen ab und machte den laufenden Vorgang öffentlich, was die Schweizer Behörde unfein fand. Sulzer verzichtete auf das Geld und die Zigeuner im Text waren gekommen, um zu bleiben.
Als Frank mit einem von ihnen »Umgang« hat, gibt es einen Skandal, die Familien ziehen fort, und Frank verlässt Deutschland sofort nach der Schule in Richtung New York City. Er taucht ein in die Schwulen- und Kunstszene der Achtziger und stirbt an Aids. Sein umfangreiches Werk tritt ohne ihn die Heimreise an, wo der Ich-Erzähler es beim Zoll in Empfang nimmt und in der Remise seines Hofs in Frankreich verstaut.
Jahrelang nimmt er sich vor, den Nachlass zu ordnen, aber nach einem Einbruch sind die Bilder verschwunden. In dieser zweiten Hälfte des Romans wird der Text zum Kunstkrimi und die Sprache lebhafter und spöttischer. Der Bestohlene zögert, die Polizei einzuschalten. »Ich sah deutlich vor mir, wie mich der Beamte über den Rand seiner Brille hinweg mustern würde, ohne mir ins Gesicht zu sagen, dass er bei aller Hochachtung – ich hatte mit Film zu tun, das respektiert man hierzulande noch bis zu einem gewissen Grad – die ganze Geschichte höchst merkwürdig finde«.
Bald tauchen die Gemälde in der Ausstellung einer Berliner Galerie auf. Der Ich-Erzähler fährt hin und ist besonders von einem Motiv schockiert, das ihn selbst zeigt. »[ …] vor allem aber war es auf rücksichtslose Weise aggressiv und maßlos. Es war ein Angriff, ein Exzess des Intimen. Mir kam es vor, als wollte einen der Künstler zum Schweigen bringen«.
Trotz dieses Schocks bleibt es bei einem irritierenden matter-of-fact Erzählton. Vielleicht lässt sich Sulzer von der sachlichen Amtssprache anstecken, auf jeden Fall finde ich seine Sprache in diesem Roman seltsam distanziert und berichtmäßig. »Es würde den Rahmen dieser Erzählung sprengen, ginge ich auf jedes der vierunddreißig ausgestellten Gemälde ein.«
Sulzers »Unhaltbare Zustände« (2019) hingegen ist mir als liebevolles Portrait von altersbedingtem Konservatismus in Erinnerung und der etwas muffigen Sechzigerjahre-Atmosphäre in der Deutschschweiz. Die Erzählhaltung in »Fast wie ein Bruder« ist, verglichen damit, eher unterkühlt und auch die gefühlvolleren Passagen wirken wie Lippenbekentnisse. »Mir wurde klar, dass keine Freundschaft je so eng gewesen war wie unsere. Ich hatte keinen anderen Bruder gehabt.«
Alain Claude Sulzer, »Fast wie ein Bruder«, Roman, Kiepenheuer&Witsch / Galiani, 192 Seiten. Erschienen am 15.08.2024. Titel:NG.
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