Daniel Kehlmanns »Die Vermessung der Welt« –

Carl Friedrich Gauß hätte das neue Humboldt-Forum in Berlin gehasst. Mit den langen Reisen auf seinen endlosen Rolltreppen. Er bewegt sich ungern aus seiner Heimatstadt Braunschweig heraus, lebt von Kind auf in seiner eigenen Zahlenwelt, wird in der Schule verkannt und verprügelt, beim Studium gelangweilt und kann sich nur durch die Fürsprache und ein Stipendium des Herzogs Karl Wilhelm Ferdinand von Braunschweig-Wolfenbüttel beruflich behaupten.

Alexander von Humboldt hingegen, Gauß’ Portrait-Partner im Roman, will immer nur reisen und überhört geflissentlich die Warnung des James-Cook-Begleiters Georg Forster, der meint, dass Viele ihre Expeditionen bereuten, »weil man nie zurückkommen könne.«

Ich hätte das Doppelportrait, mit dem Daniel Kehlmann vor fast 20 Jahren der Durchbruch als Bestseller-Autor gelang, ruhig viel eher lesen sollen. Aber die Aussicht auf die Lebensgeschichte eines Mathematikers hatte mich abgeschreckt. Dabei hat »Die Vermessung der Welt« alles, was »Lichtspiel« auch hat und was mich mit Bewunderung erfüllt: jede Menge Wissen bei gleichzeitig leichtfüßig eleganter Sprache, die einem die Informationen gleichsam unterjubelt.

Ich habe etwas über die ersten Heißluftballon-Fahrten gelernt und dass Goethe nicht an Lava glaubte. Ich staune über Humboldts grenzenlose Neugier, die auch vor Stromexperimenten am eigenen Körper nicht halt macht – bis der Arzt kommt. »Ein Rätsel, wie klein auch immer,« erklärt er seinem erschöpften Reisegefährten Aimé Bonpland, »lasse man nicht am Wegesrand.«

In einem späten fiktiven Gespräch zwischen Gauß und Humboldt erweist sich der Mathematiker als der modernere Denker. Er, der die meiste Zeit des Lebens am selben Ort und in seinem eigenen Kopf gewohnt hat, macht Humboldt auf den »kantischen Unsinn« aufmerksam, an den dieser zu glauben scheint: »Der Verstand forme gar nichts und verstehe wenig«.

Daniel Kehlmann, »Die Vermessung der Welt«, Roman, Sonderausgabe Rowohlt Taschenbuch, Dezember 2023, 280 Seiten. Erstmals erschienen 2005 bei Rowohlt.