Annie Ernauxs »Das andere Mädchen« ist ein Brief an die nie gekannte Schwester. Die doppelt tote Schwester: gestorben vor Ernauxs Geburt und totgeschwiegen in all den Jahrzehnten, die ihre Eltern noch lebten.
Durch einen Zufall hört die zehnjährige Annie ihre Mutter mit einer Nachbarin über das Mädchen reden, das ihr vorausgegangen ist. Dieses plötzliche Wissen und die Bemerkung, die tote Schwester sei »viel lieber als die da« gewesen, erschüttert Ernaux bis ins hohe Alter. Sie wagt es nicht, ihrer Mutter weitere Fragen über die Schwester zu stellen und diese tut so als wüsste sie nicht, dass Annie ihre Unterhaltung mit der Nachbarin mitangehört haben könnte.
2011 schreibt sie diesen Brief an die Erstgeborene, die im Alter von sechs Jahren an Diphterie stirbt, sieben Monate, bevor die Impfung in Frankreich Pflicht wird und gut zwei Jahre vor Annies Geburt im Jahre 1940. Ihr wird klar, dass sie ihre Existenz dieser Katastrophe verdankt, denn ihre Eltern sind so arm, dass sie sich nur ein Kind leisten können und wollen.
Und so blieb Annie Einzelkind und wurde das, was sie geworden ist. Eine Nobelpreisträgerin, die als Archäologin der eigenen Herkunft Gefühle der Trauer, der Eifersucht, des Ressentiments und der Dankbarkeit zutage fördert: »Das Ausmaß meines Lebens, das ich deinem Leben abgenötigt habe, überwältigt mich.«
Das Frappierendste auf diesen 74 Seiten ist das Schweigen bei den Ernaux. Jede Familie, nicht nur die dysfunktionale, kennt unausgesprochene Schweigepflichten. Die Dinge, an die wir gemeinsam nicht rühren, sind oft gerade nur so zu ertragen. So sind Tabus auf ihre eigene Art funktional im System Familie. Ernaux beschreibt das so: »Ich musste ihren Wunsch nach meiner Unwissenheit erfüllen. Mir scheint, wenn ich gegen das Gesetz verstoßen hätte – was für mich damals undenkbar war -, wäre es so gewesen, als hätte ich in ihrer Gegenwart etwas Obszönes gesagt, wenn nicht gar schlimmer, es hätte eine Katastrophe und eine außergewöhnliche Strafe nach sich gezogen, […]«
»Das andere Mädchen« war ein Geschenk zu Heiligabend und der Schenkende weiß, wie dominant das Thema verschwundenene/tote Schwester in meiner eigenen Biografie ist.
»Der junge Mann« hätte auch gut gepasst und ich bedankte mich für sein Zartgefühl, mir nicht das unter den Weihnachtsbaum zu legen.
»Kommt erst am 16. Januar« war die Antwort.
Annie Ernaux, Sonja Finck (Übersetzerin), Das andere Mädchen. Gebundene Ausgabe. 74 Seiten. Suhrkamp Verlag. Erschienen am 10.10.22.
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