Camilla beschließt zu gehen. Sie arbeitet als Buchhalterin und kommt für das gemeinsame Leben mit Noah auf, der bildender Künstler ist und bisher noch auf seinen Durchbruch wartet. Diese Existenz ist nicht, was sich die bildschöne Dreißigjährige vorgestellt hat. »Ich liebe dich, aber nicht das Leben mit dir« eröffnet sie Noah eines Abends im Bett und am nächsten Morgen rückt sie ihre Hälfte des Doppelbetts ins Wohnzimmer, schläft aber schon nach wenigen Tagen nicht mehr dort, sondern bei einem neuen Liebhaber. Einem mit Geld, versteht sich.

Die Geschwindigkeit, mit der Camilla ihre einmal getroffene Entscheidung umsetzt, erwischt Noah völlig unvorbereitet und ihre Konsequenz, »die er bewundert hätte, wenn er nicht von ihr betroffen gewesen wäre«, wirft ihn völlig aus der Bahn.

In einer Bar, bei Cocktails, die er sich eigentlich nicht leisten kann, fällt er Betty auf, einer wohlhabenden Witwe mit schwachem Herzen, die einen letzten Wunsch hat, der sie am Leben hält. Nach ein paar weiteren Cocktails (die Betty fortan bezahlt), trägt sie diesen an Noah heran und der, entschlossen, Camilla zurückzugewinnen, lässt sich auf ein atemberaubendes Arrangement ein.

Daniel Kaiser vom Bücherpodcast Eat.READ.Sleep empfindet den neuesten Suter gerade wegen dieses Set-ups als Zumutung. »Völlig unglaubwürdige Geschichte. Dagegen ist „TKKG: Ufos in Bad Finkenstein” realistisch.« Mit-Rezensent Jan Ehlert gibt zu bedenken, dass Suter erstens sein Handwerk des Unterhaltungsliteraten beherrscht und zweitens durchaus zentrale Lebensfragen behandelt, wie das ökonomische Ungleichgewicht in Beziehungen und die Konsequenzen, die sich daraus für die Liebe ergeben.

Ich teile diese Einschätzung und habe außerdem eine interkulturelle Beobachtung gemacht. In der Schweiz scheint die Ökonomisierung des Privatlebens als eine Art conditio humana verinnerlicht zu sein und sorgt beim irrational liebenden Rest Europas für Erstaunen. Denn der materialistische Pragmatismus der Schweizer wirft ja nicht erst seit dem Neo-Liberalismus seinen Schatten über Berufs- und Partnerwahl. Es scheint, in der Schweiz tickten (!) alle immer schon so wie Camilla.

Vor diesem Hintergrund empfinde ich den Ausgangspunkt der Geschichte zwar als ausgesprochen unromantisch, aber nicht realitätsfern. Was sich dann im Verlauf des Plots allerdings an Suterschen Wendemanövern entwickelt, kann einem schon auf die Nerven gehen.

Wären da nicht die hinreißenden Lebensweisheiten von Betty. Zum Beispiel eine Beobachtung, die sie Noah mitteilt, der an seiner eigenen Unaufrichtigkeit verzweifelt. Womöglich sei die vielgepriesene Ehrlichkeit in Beziehungen in Wirklichkeit ein Warnzeichen. »Man will gut dastehen voreinander. In der Liebe ist die Lüge ein Liebesbeweis. Die Wahrheit ist für die vorbehalten, die einem egal sind.«

Martin Suter, »Wut und Liebe«, Roman, Diogenes, 304 Seiten. Erschienen am 23.4.2025.

Martin Suter, »Wut und Liebe«, Hörbuch Diogenes, gelesen von Gert Heidenreich, 6 Stunden, 57 Minuten. Erschienen am 21.5.2025.