Meine Mutter sehnte sich ein Leben lang nach der fröhlichen und aussichtsreichen Mädchenzeit, die sie nie hatte. Ob es die wohlhabende Jugendfreundin Renate (Vater Arzt) oder die verliebten Nachbarjungs aus der Grundschule (einer davon Gregor, später Gemeindeorganist) wirklich gegeben hatte oder ob sie nachträglich ins Leben gerufen wurden um die Wunden der Nachkriegszeit zu verpflastern, habe ich nie herausgefunden. Alles, was ich von der Kindheit meiner Mutter wusste, waren ein paar Anekdoten, die jahrzehntelang sonntags an den Kaffeetafeln herumgereicht wurden.
Eine davon betraf passenderweise Sonntage. Meine Mutter hasste Sonntage. Sie waren ihr einfach zu langweilig. Als sie es eines Sonntags absolut nicht mehr aushielt, ging sie zu Gregor rüber, klingelte, er machte auf und sie scheuerte ihm eine. Als er protestierte, hatte sie sich schon wieder zum Gehen gewandt und rief über die Schulter:
»Das war noch von gestern.«
An der Stelle hätte mich natürlich brennend interessiert, was denn gestern gewesen war, aber ich fragte nie. Ich spürte genau, dass man sich im Familienverband darauf geeinigt hatte, das Wesen meiner Mutter (»ein kleiner Filou«) in diesen wenigen Momentaufnahmen festzuzurren. Alles, was darüber hinausging wurde, so die gemeinschaftliche Absicht, von diesem funzeligen Lichtkegel nicht erfasst.
So sehnte ich mich ein Leben lang danach zu erfahren, wer meine Mutter eigentlich war. Vor allem wollte ich wissen, wie sie ausgesehen hatte, bevor sich ihre platinblond gefärbten Haare zu einem mit Haarspray errichteten Gebäude auf ihrem Kopf türmten. Aber sie sagte, es gäbe keine Fotos von ihr als Kind.
In ihren jeweiligen Geldbeuteln verwahrte sie seit Jahrzehnten den Schlüssel. Er ist kaum anderthalb Zentimeter groß, sehr flach und viel zu leicht für seine Wichtigkeit. Er passt zu einer hellgrünen Stahlkassette in sogenannter Hammerschlag-Lackierung.*
Nie habe ich als Kind einen Blick hinein werfen dürfen, aber meine Mutter sagte, dort drinnen befänden sich ihre liebsten Erinnerungen.
Ich schließe auf und bin überrascht, wie leer die Kassette ist. Viele der dunkelroten Fächer sind nicht belegt und erst als ich den Plastik-Einsatz hochhebe, ergibt sich dasselbe Bild wie in allen unseren Schubladen: ein wildes Durcheinander von Zeitungsausschnitten (»Elvis in Bremerhaven gelandet«, »Schulschiff Pamir gesunken«), die Wiegekarte von meiner Geburt im Marienhospital am Bonner Venusberg (»3200 g, 55 cm, trinkt gut« – ist das ihre liebste Erinnerung an mich?) und ein fest zusammengefalteter Brief in sehr kleiner sorgfältiger Schrift (nicht die meines Vaters), datiert kurz vor ihrer Hochzeit im Sommer 1957 und unterschrieben mit »Gregor« (es gab ihn also wirklich).
Ganz unten liegt ein Foto. Auf der Rückseite ist es mit »Münster 1948« datiert. Es zeigt meine elfjährige Mutter mit Zöpfen am Klavier und ich hätte sie darauf nie erkannt. Nicht nur, weil ich meine Mutter später nie mehr am Klavier sitzen sah. Auch nicht wegen der dunkelblonden Zöpfe, die ich genau so mit elf auch trug. Sondern wegen ihrer Augen. Sie sind hell und kalt direkt in die Kamera gerichtet. Die Lippen meiner kindlichen Mutter sind fest verschlossen und verweigern jegliches Lächeln, das die Leere des Blicks hätte auffangen können. Mit Todesverachtung sieht sie den Fotografen an. Oder den Betrachter. Oder gleich die ganze Welt. Ich bin verwirrt. Das kann nicht dieselbe strahlende, immer lächelnde Schönheit sein, die ihre Umgebung mit dem sorgfältig geschminkten Blick von Aufmerksamkeit, Herzenswärme und Anteilnahme verzauberte.
Schnell schließe ich wieder zu und die volle Bedeutung des abgegriffenen Spruchs: »Ich möchte sie so in Erinnerung behalten, wie sie im Leben war« wird mir klar. Es sind die alten Kaffeetafel-Geschichten, die das Gebäude der Persönlichkeit meiner Mutter geschaffen haben und warum sollte ich mir das nachträglich ausbomben lassen?
»Sind sie die Tochter?« fragt mich die Pflegerin. Als ich bejahe, sagt sie: »Ihre Mutter hat mir viel von ihnen erzählt. Sie müssen eine wundervolle Kindheit gehabt haben. Da haben Sie Glück gehabt.« An ihrem unschuldig lächelnden Blick sehe ich, dass es keinen Sinn macht sie ins Bild zu setzen.
* Der optische Vorteil der Hammerschlaglackierung liegt darin, dass die lackierte Oberfläche auch dann noch gut aussieht, wenn die Bauteiloberfläche selbst nicht ganz glatt und regelmäßig ist. Um den gleichen optischen Effekt bei einer Glattlackierung zu erreichen, müsste die Bauteiloberfläche oft nachbearbeitet, beispielsweise geglättet, poliert oder gespachtelt werden. Bei einer Hammerschlaglackierung entfallen diese Arbeitsschritte.
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