»Frauen lesen anders« neu herausgegeben –
Ruth Klüger fühlte sich der Rezeptionsästhetik verpflichtet und ihre Essays seien auch heute noch »ungemein lesbar«, versichert der Wallstein Verlag. Zum Teil gehen die Texte bis auf die Siebziger Jahre zurück, zum Teil sind sie überarbeitete Vorträge für germanistische Gesellschaften in den USA. Von daher scheint die Zielgruppe auf den ersten Blick ü60 zu sein. Das muss aber nicht so bleiben.
Ich persönlich lese die Essays gerne als Zeitreise in meine eigenen Womens‘ Studies Anfänge in den USA. Sie haben Titel wie »Kind und Sklavin. Zur Frauenrolle im Unterhaltungsroman.« »Korrupte Moral: Erich Kästners Kinderbücher« oder »Das muss ein Mann mir sagen. Kleists Frauenbild.«
Ruth Klüger habe ich bei einem Vortrag am Reed College, OR, 1990 noch erlebt. Ihre Feststellung »Die Vielschichtigkeit der weiblichen Figuren erkenne ich schneller und besser, weil freudiger, als meine männlichen Kollegen in der Literaturwissenschaft.« war damals eine Offenbarung für mich.
Und weil sie als KZ-Überlebende eine besondere Lesart hat, kam noch eine interessante Beobachtung hinzu, die uns heute immer noch weiterhilft, wenn wir zeitgenössische Texte genau betrachten: »Ich ärgere mich leichter als männliche Leser über die Trivialisierung und Stereotypisierung von Frauen«. Klüger sieht insbesondere in Unterhaltungsliteratur – und in der heutigen Zeit könnten wir Social Media hinzuzählen – »Hoheitsansprüche, die mit Nationalismus und Herrenmenschentum zu tun haben.«
So kann man Klügers Thesen wie eine Folie über die eigene heutige Lektüre legen und das macht einfach Spaß. Kästners Kinderliteratur z.B. wird als moralisch bedenklich entlarvt, der Unterhaltungsroman für Frauen mit »Sklavenliteratur« gleichsetzt.
Damit seien »Bücher gemeint, in denen nur derjenige oder vielmehr diejenige ein sinnvolles Leben führen kann, die sich den bestehenden Machtverhältnissen anpasst und sich mit ihnen nicht nur abfindet, sondern ihnen auch mit Leib und Seele dient.«
So manche Influencerin, so weit ich sie denn mal wahrnehme, scheint mir in diese Kategorie der (Selbst-)Versklavung zu passen. Sklavenliteratur spreche Menschen an, »die sich mit dem Status quo abfinden müssen, oder glauben es zu müssen. Sie trägt zur Anpassungsfähigkeit der Minderberechtigten bei«.
Die Entlarvungen in Mareike Fallwickls Dystopie »Und alle so still« gehen auch in diese Richtung. Klüger hätte Fallwickl sicher gerne gelesen. In »Und alle so still« wird moderne Sklavenarbeit, z.B. in der Gebäudereinigung oder der Pflege schmerzhaft detailliert beschrieben.
Fallwickl schildert, wie junge männliche Migranten in Frauenberufe hineindegradiert werden, während sich Frauen, die ein hohes Maß an männlichen Verhaltensweisen zeigen, von Care-Arbeit emanzipieren können.
Als die modernen Sklav:innen in »Und alle so still« sich zusammenrotten und solidarisieren, greift der Polizeistaat sofort ein. Eine »Selbstlosigkeit, die den Machthabern nicht zugutekommt, wird schlankweg verdächtig« (Klüger) und brutal sanktioniert.
Über die Mechanismen struktureller Gewalt scheint auch kein hippes Gendern wirklich hinwegzuhelfen. A propos: Klüger berichtet über einen Shitstorm männlicher Leser, weil sie bei dem Wort »Autorinnen« das in den Neunzigern übliche Binnen-I zum Gendern weggelassen hatte.
Ihre These in dem betreffenden Text: Frauen lesen nicht nur anders, sie schreiben auch anders und werden daher kaum von Männern gelesen. Ihre Antwort auf die männliche Empörung lautete daher: »Wer rechnet schon mit Lesern?«
Ruth Klüger, »Frauen lesen anders. Essays«, herausgegeben von Gesa Dane, Wallstein Verlag, 264 Seiten. Erschienen am 11.09.2024.
Mareike Fallwickl, »Und alle so still«, Roman, Rowohlt Hundert Augen, 368 Seiten. Erschienen am 16.04.2024. Cover:NG.
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