Kristin Vallas »Das Haus über dem Fjord« –

»Wer unsere Eltern wirklich waren, werden wir vielleicht nie erfahren.« Elin, Redakteurin einer Modezeitschrift in Oslo, räumt ihr Elternhaus in Nord-Norwegen aus. Und damit auch ihre Kindheit und Jugend, die vom Trauma eines Erdrutsches (1985) zerrissen wurde, der viele Todesopfer unter der Küstenbevölkerung forderte.

Sie taucht ein in die vergessenen Geräusche, Gerüche und Gefühle von früher. »Als ob Ola darauf gewartet hätte, dass ich kommen würde. Er war immer noch unten in der Küche beschäftigt. Gläser klirrten, Schranktüren fielen mit einem dumpfen Knall ins Schloss. Eine Art Alltagsmusik aus ferner Vergangenheit, die ich fast vergessen hatte.«

Neben den bekannten Erinnerungen findet Elin Hinweise auf Unbekanntes im Leben von Jugendfreund Ola. Und sieht ihr Zuhause jetzt auch mit dem erwachsenen Blick der designgewöhnten Erwachsenen.

»Stabparkett für die Wohnzimmer, Strohtapete für die Bibliothek, Wasserhähne aus Messing und das erste Wasserklosett im Dorf. Erst als ich nach Südnorwegen umgezogen war, begriff ich, dass es andere Häuser gab, die mit unserem Ähnlichkeit hatten.«

Kristin Vallas Präzision bei der Darstellung von Räumen und ihrer Symbolik ist mir schon in »Ein Raum zum Schreiben« aufgefallen. Die Bedeutung des Stils für die Ausweisung von Klassenunterschieden und Hierarchien ist gleichzeitig unaufdringlich und deutlich – wie gutes skandinavisches Design eben.

Zum Beispiel kommt Elin in der Redaktion ihrer Modezeitschrift outfit-mäßig ins Schleudern, als sie vertretungsweise die Position der Chefredakteurin einnehmen soll. Sie sagt die Beförderung fast ab, weil sie buchstäblich nichts anzuziehen hat. Der Blick in den alten Kleiderschrank zeigt, dass ihre Mutter zwar nie eine solche Karriere hatte, aber paradoxerweise genau die richtigen Kleider dafür.

Über ein Kleidungsstück ihres Vaters, der »nie an die Oberfläche« kam und »etwas in sich« hatte, »das ihn schwer machte«, gerät sie auf die Spur einer anderen Vergangenheit ihrer Eltern. Zunächst zögerlich und dann immer entschlossener geht sie ihr nach, auch als ihre Recherche sie nach Frankreich führt.

Dort angekommen, trifft sie auf Didier, ihren Gastgeber, der ihre Geschichte zu kennen scheint. »Wer unsere Eltern wirklich waren, werden wir vielleicht nie erfahren«, sagt Didier, »Aber wer sie für uns sind, entscheiden wir zum Glück selbst.«

Kristin Valla, »Das Haus über dem Fjord«, aus dem Norwegischen von Gabriele Haefs, Roman, Taschenbuchausgabe, Kein&Aber Pocket, 319 Seiten, 2024. Deutsche Erstausgabe bei mareverlag 2022.

Über Kristin Vallas Besuch auf der Leipziger Buchmesse 25