»Mein drittes Leben« von Daniela Krien ist schmerzhaft pointiert und stellenweise wohltuend böse –
»Das Rückwärtsinterpretieren hilft dem Vorwärtsleben nicht«. Ich-Erzählerin Linda wühlt sich auf einem alten Hof in der sächsischen Provinz aus einer überstandenen Krebserkrankung und, zusätzlich, dem schwierigsten Trauerprozess ihres Lebens. Sie erkennt, wie das Gedankenkarussel am besten in Schach gehalten werden kann.
»Arbeit rettet vor Einsamkeit, Trauer, abwärtsführenden Gedankenspiralen, dem Gefühl der Sinnlosigkeit, vor Schlaflosigkeit und Angst«. Je einfacher und körperlicher die Arbeit sei, umso besser für die Trauernde. »Der Geschwätzigkeit dieser Welt weitere Worte hinzuzufügen oder entgegenzusetzen, ist nutzlos. Ein gefegter Hof dagegen, ein blühender Garten!«
Eine starke erste Szene, in der ein Bussard eine ihrer Hennen angreift, zeigt, dass sie durchaus imstande ist, das Leben zu verteidigen. Vor einigen Tagen las ich vom Angriff eines Steinadlers auf ein 20monatiges Baby in Norwegen und dass die Mutter ihr Kind gerade so retten konnte. Die Szene ist also keineswegs abwegig. Umso deplatzierter und nutzloser erscheint da im Roman der Kommentar von Noch-Ehemann und Lehrer Richard, der bereits das Meiste über diese Figur verrät: »Untypisch für einen Bussard. Bist du sicher, dass es kein Falke war?«
Linda betrachtet ihre Krebserkrankung als logische Folge der Trauer um ihre einzige Tochter. Richard scheint als Vater anders bzw. weniger zu trauern, was die Kluft zwischen ihnen verstärkt. Während Richard die Stadtflucht seiner Frau als hysterische Eskapade empfindet und sie immer wieder zum Zurückkommen in die gemeinsame Wohnung drängt, spürt Linda, dass sie genau dort ist, wo sie Heilung finden kann. In ihrer eigenen Zeit.
Der Verlust des gemeinsamen Kindes bedeutet für sie auch der Verlust des Kräftegleichgewichts zwischen den Familien. Richards Kinder aus einer früheren Verbindung nimmt sie als starke Persönlichkeiten wahr, ihre verstorbene Tochter ist in ihrer Erinnerung wesentlich zarter, schwächlicher gewesen. Richard verliebt sich viel schneller wieder als Linda überhaupt daran denken könnte. Ihr fehlt die Resilienz derer, die sie bedrängen, doch endlich wieder zu funktionieren. Noch fehlt es ihr an Durchsetzungsfähigkeit gegen den Tod.
Der Roman lebt auch besonders von seinen plastischen Nebenfiguren. Allen voran Nachbarin Natascha und ihre schwerbehinderte Tochter Nine, die sie aufopferungswillig pflegt. Man merkt bei jedem Detail, dass Krien weiß, wovon sie schreibt. Von dem lieblosen Verweis der Pflegenden auf den Zeitschlüssel, der es nicht erlaubt, die Kackereste unter den Fingernägeln der Tochter wegzuwaschen, wenn diese sich in die volle Windel gegriffen hat. Bis hin zu den vollmundigen Versprechungen anthroposophischer Einrichtungen im Schwarzwald. Letztendlich läuft es immer auf eines hinaus: Mutter muss machen.
Mit ihrer eigenen Mutter verbindet Linda eine komplizierte Abhängigkeit, während sie ihren westdeutschen Stiefvater für die materiellen Grundlagen respektiert, die er ihr geboten hat. Er akzeptierte Linda als Anhängsel seiner neuen ostdeutschen Frau als Gegenleistung für die weitere Produktion von Halbgeschwistern. »Es gehörte anscheinend zu seinem patriarchalischen Konservatismus, dass auch ich vollständig in das Familienkonstrukt einverleibt wurde, mit fester Hand gehalten und gestärkt, kontrolliert und geleitet.«
Für die Vergangenheit von Mutter und Tochter in der DDR hat er weder Interesse noch Verständnis. »Er sah den ganzen Osten als Entwicklungsland und Investitionsgebiet.« Und Krien wird noch deutlich fieser. Der schwäbische Witwer, den Lindas Mutter sich per Annonce angelte, sei womöglich angezogen gewesen von den »sexuellen Qualitäten der Ostfrauen, ihrer im Vergleich zu den Westfrauen angeblichen großen Bescheidenheit und ihrem Fleiß? Sie galten als emanzipiert und gleichzeitig hingebungsvoll, als Allrounderinnen, die Kinder, Haushalt und Beruf mühelos miteinander in Einklang brachten und mit denen sich im Bett die wildesten Sachen treiben ließen. Schamlose Naturkinder, unverdorben und formbar.«
Als Teenager, so erinnert sich Linda, versuchte sie in Westdeutschland (vergeblich), dazu zu gehören und (erfolgreich) zu überleben. Von ihrer Mutter fühlte sie sich verlassen. »Alles an ihr sagte: Schweig! Und ich hielt mich daran.«
In ihrem eigenen Leben mit eigener Familie angekommen, verweigert sich Linda den Aufforderungen zur Anpassung. Als sie sich wegen ihrer Depression außerstande sieht, die Feier zum 80jährigen Geburtstag ihrer Schwiegermutter mitzumachen, macht Richard ihr Vorwürfe: »Schade […] Es geht nur noch um dich, um niemanden sonst.«
Aber Linda weiß genau, warum sie sich den Familienzusammenkünften nicht aussetzen sollte. »Menschen ermüden vom Leid anderer Menschen. Sie verlieren die Lust, Rücksicht zu nehmen, wollen wieder selbst klagen dürfen. Sie sind heimlich wütend darüber, dass vor meinem Problem jedes ihrer eigenen Probleme verblasst. Meine Anwesenheit zwingt sie, ihr Glück zu begreifen.«
»Mein drittes Leben« empfinde ich als Zuspitzung und Vertiefung von »Die Liebe im Ernstfall«. Die Wiederholung des erfolgreichen Sprungturm-Covers ist trotzdem ein Ärgernis. Kann es sein, dass man bei Diogenes die besonders starke Neigung hat Motive und Themen, die sich einmal gut verkauft haben, zu Tode zu reiten? Wells, Dörrie, Irving, Suter. Die besten Autor:innen unserer Zeit werden schamlos zu Marken degradiert, die Stammleser:innen binden und die Cashcow »Spiegel-Bestseller« melken sollen. Und die Grafiker tun das ihrige und schaffen unoriginelle Schwimmbad-Motive, die nur noch den Anspruch haben für Wiedererkennbarkeit und Kauf-Reflexe zu sorgen. B-o-r-i-n-g! Gute Geschichten stehen für sich. Auch ohne den Klammergriff von allzu aufdringlichem Marketing.
Daniela Krien, »Mein drittes Leben«, Roman, Diogenes, 304 Seiten. Erschienen am 21.08.24. Cover_NG
Schreibe einen Kommentar