Im Frühjahr 2022 wimmelt es nur so von Büchern übers Muttersein bzw. -werden. Nicht alles davon macht Mut, vieles ist deprimierend.
Ich bin auf der Suche nach einem Muttertagsgeschenk und sondiere zwischen »Die Wut die bleibt« (Mareike Fallwickl, Rowohlt), »Wie man seine Tochter liebt« (Hila Blum, Berlin Verlag), »Die andere Tochter« (Droemer Knaur), »Mehr als ein Leben« (Milena Moser, Kein&Aber) und »Man kann Müttern nicht trauen« (Andrea Roedig, dtv). Unentschlossen gucke ich mich bei den Skandinavierinnen um. Natürlich würde »Gesichter« von Tove Ditlevsen (Aufbau) mancher Mutter, die am Anschlag ist, helfen, ihren eigenen Wahnsinn einzuordnen. Dann finde ich »Meter pro Sekunde« von Stine Pilgaard (Kanon Verlag). Die Lektüre bietet Tiefgang mit etwas Hygge-Faktor und dem ganz normalen Wahnsinn, den das moderne Familienleben mit sich bringt.
Plötzlich Provinz
Die Ich-Erzählerin zieht mit Freund und gemeinsamen Baby von der Großstadt in den kleinen Ort Velling in West-Jütland. Dort nimmt er einen Job an einer »Folkehøjskole« an, eine Art Internat, das Schulabgängern ein Orientierungsjahr vor dem Studium oder einer Berufsausbildung bietet. Als Lehrer für kreatives Schreiben ist er bald vor allem bei den Schülerinnen populär, während die junge Mutter mit der neuen Umgebung hadert. Weder die Ich-Erzählerin, noch ihr Freund, noch das gemeinsame Kind bekommen in der Geschichte einen Namen. Sie sind einfach nur »Ich«, »mein Liebster« und »unser Sohn«. Bis zum Ende hält Pilgaard das durch, und mit diesem Stilmittel verallgemeinert sich die Geschichte von selbst. Die Weigerung der Erzählerin, diejenigen mit einem Namensetikett zu versehen, die ihr am wichtigsten sind, ist eine rührende Geste. So bekommen sie die Freiheit, eine Weile ohne Namen zu leben, ohne Label.
Ohne ausgeleierte Plot-Muster
»Meter pro Sekunde« nimmt sich in erzählerischer Hinsicht weitere Freiheiten heraus. Die bekannten und totgerittenen Hollywood-Plotmuster, wie sie bei Bestsellern mittlerweile fast ausschließlich zur Anwendung kommen, werden in diesem Roman erfrischenderweise fast völlig missachtet. Nach der Hälfte der Lektüre wundert man sich, warum noch niemand gestorben ist, wo der zweite Wendepunkt bleibt und warum das kommende Unglück sich noch nicht in mehr oder weniger gekonntem »Foreshadowing« ankündigt. Alle lebendigen Figuren bleiben es tatsächlich bis zum Ende. Nirgendwo geht die Welt unter, die Handlung entwickelt sich auch ohne den angeblich unverzichtbaren Riesen-Konflikt und keiner muss gerettet werden, nicht einmal die Katze. Wenn es überhaupt so etwas wie einen übergeordneten Taktgeber in dieser Geschichte gibt, dann ist es die kollektive Heldenreise, die jede moderne Familie kennt: ein Schuljahr.
Das kennen wir doch
Als Strukturelemente für die Kapitel dienen Pilgaard die Kontakte der Hauptfigur. Da gibt es die genüsslich zelebrierten Treffen mit Krisser, der Freundin aus dem Geburtsvorbereitungskurs. Jede moderne Mutter hat so eine Geburtsvorbereitungsfreundin. Meine habe ich beim Schwangeren-Schwimmen kennengelernt. Die erste Begegnung besiegelte unsere (bisher) 25 Jahre dauernde Verbundenheit. Musste sie auch, denn am gleichen Nachmittag kam ihre Tochter zur Welt und damit war erstmal Schluss mit Schwimmen. Die Zeit der völligen Körper-Fixierung, die damit erst richtig losging, wird im Roman so geschildert: »Die Flüssigkeiten schwappten zwischen uns hin und her, Milch, Schweiß und Tränen, die Stiche der Dammnaht juckten, die Brüste spannten.«
Als der Ich-Erzählerin nach Monaten klar wird, dass sie gar kein Kulturleben mehr hat, fangen die beiden an, über Bücher zu reden, »versuchsweise […], als ob wir eine Sprache auffrischen wollten, die wir seit der Kindheit nicht mehr gesprochen haben«.
Alle der liebenswerten Figuren im Buch sind zwar irgendwie repräsentativ, aber nicht schablonenhaft. Die öko-fanatische Lehrerin und der Nachbar, der davon träumt, hauptberuflich Knäckebrot herzustellen, sind Typen, die man sofort wiedererkennt. Das gilt besonders für die patente Schulleiterin, die der Erzählerin einen Job bei der Lokalzeitung verschafft: »Ich habe den starken Eindruck, dass die Stadt, vielleicht das ganze Land nur durch sie funktioniert. Freundlich zieht sie ein paar Fäden, wo nötig, auch etwas unsanfter, verschiebt mit einem Wind ein paar Dünen, gleich haben alle freien Blick aufs Meer«.
87 Fahrstunden
Nur beim Erwerb der Fahrerlaubnis kann der Erzählerin niemand helfen. Auf dem mühseligen Weg zur Führerscheinprüfung verschleißt sie insgesamt drei Fahrlehrer:innen. Ihre Heldenreise vom hoffnungslosen Fall bis zum Show-down der Fahrprüfung im Sommer ist gespickt mit Standard-Kalauern über rückwärts einparkende Frauen und solche, die im Kreisverkehr die Orientierung verlieren. Das nervt zwar, aber das Leben ist ja manchmal albern. Gerade beim Autofahren. Und dort zeigt sich die wachsende Solidarität der Dorfbevölkerung mit ihrem Neuzugang: »87 Fahrstunden […] Dafür kann sie etwas, das wir beide nicht können, sagt Parkplatzpeter. Er berichtet, dass ich zwischen zwei Fahrstunden ein Kind zur Welt gebracht habe, was in der Gesamtrechnung berücksichtigt werden müsse. Und null Fehler in Theorie.«
Im Land der kurzen Sätze
Die individuelle Heldenreise ihres Sohnes geht, flankiert vom unbändigen Stolz der Eltern, vom ersten Wort (»Muh«) zum zweiten (»Mäh«). Vielleicht wird er in Zukunft nicht viel mehr reden, denn die Gegend um Velling ist das »Land der kurzen Sätze«. Die Ich-Erzählerin wird von einem ortsansässigen Fernsehjournalisten, der als soziologische Instanz im Text fungiert, in die interkulturellen Feinheiten dieser Gegend eingeweiht. Er bringt ihr bei, dass es bei Gesprächen in der Kleinstadt um das Gefühl der Zusammengehörigkeit gehe, darum »sich anzupassen und mit der Landschaft zu verschmelzen«.
Auch ihr Partner, der auf dem Land großgeworden ist, versucht ihr kommunikatives Überleben in der Provinz durch abendliches Gesprächstraining zu sichern. Er ermahnt sie, nicht zu viel Persönliches preiszugeben, auf keinen Fall über Sex zu reden und sich ansonsten so neutral wie möglich zu geben: »Kein Mensch will wissen, wie es dir geht, sagt er, vergiss das nicht«.
Lizenz zum Besserwissen
Wie heilsam ist es da, dass die Ich-Erzählerin in der Lokalzeitung rechtzeitig ein Ventil für ihren Mitteilungsdrang bekommt. Der geniale Kunstgriff der Kummerkasten-Stimme kommt auch der realen Autorin zugute. All die Notizen mit gesammelten Beobachtungen und aphoristischen Weisheiten kann sie hier unterbringen, ohne dass sie besserwisserisch daherkommt, wie das in der laufenden Handlung der Fall wäre. Sie wird ja sozusagen zum Besserwissen aufgefordert, und welche Schriftstellerin würde das nicht in vollen Zügen genießen?
Keine Instagram-Idyllen
Wenn die Ich-Erzählerin im Laufe des Küstenwinters trotzdem ihr Dasein einmal als »Gefängnis aus Wind und Windeln« bezeichnet, rückt sie damit wieder etwas ans Tove-Ditlevsen-Lesegefühl heran. So viel ändert sich doch nicht in nur einem Jahrhundert. Als junge Mutter, erkennt sie, ist sie im Wesentlichen Trägerin ihrer Kultur, auf Social Media bestenfalls Gegenstand gesellschaftlicher Verhandlungen, und niemand interessiert sich für sie als Mensch. Auch im »Land der kurzen Sätze« hat jeder Nachbar Kommentare zur Kindererziehung bereit und »Das Muttersein gehört nicht einem Menschen, sondern ist die Mutterschaft von Tausenden anderen«.
Gestatten: Die Ur-Wut
Nicht mehr als Individuum wahrgenommen zu werden, belastet auf Dauer. An einen jungen Vater, der den Post-partum-Stimmungsschwankungen seiner Frau hilflos gegenübersteht, schreibt die Ich-Erzählerin: »Lieber Mann. Darf ich vorstellen? Die Urwut. Du musst verstehen, hier handelt es sich um einen biologischen Aufstand, der sich gegen die Natur selbst richtet. Man darf das nicht mit gewöhnlicher Verbitterung verwechseln, wir haben es vielmehr mit blinder Raserei zu tun, deren Echo durch die Zeiten hallt. Was du da spürst ist nicht nur die Wut deiner Frau, sondern auch die Wut ihrer Mutter und die ihrer Großmütter. […] Nimm sie nicht persönlich, aber nimm sie ernst.«
Für Stellen wie diese bekommt Pilgaard von Schriftsteller-Kollegin und Wut-Expertin Mareike Fallwickl ein großes Kompliment. Das Buch komme »zart angehopst«, schreibt sie, und habe es »in Wahrheit faustdick hinter den Ohren«.
Die perfekte Komödie des Normalen
Auf der diesjährigen Lit.Cologne hat Stine Pilgaard ihre »perfekte Komödie des Normalen« (Dagbladet Information) in Deutschland bekannt gemacht und im nächsten Jahr erscheint im Kanon-Verlag dann Pilgaards Erstling »Sagt meine Mutter«.
Auch wenn es alle Orte im Buch tatsächlich gibt und besonders Hvide Sande (mit seinen Kreisverkehren) vielen Dänemark-Urlaubern bekannt ist, helfen die Anmerkungen der Übersetzer.
Denn »Volkshochschule« oder »Internat« trifft das Konzept der »Folkehøjskole« nicht ganz und die landeskundlichen Erklärungen zu Liedern und Festen sind eine gute Verständnishilfe. Die Lieder aus dem dänischen »Højskolesangbog«, die den Kapiteln wie Serviervorschläge vorangestellt sind (»singbar auf…«) haben die Übersetzer Hinrich Schmidt-Henkel und Frank Heibert liebevoll nachgedichtet.
Wie eine Mutter-Kind-Kur an der Nordsee
Das Schöne an der Kindle-Version ist, dass man sehen kann, welche Textstellen bei den Lesern besonders gut ankommen. Spitzenreiter unter den Markierungen ist eine Passage, die offensichtlich besonders viel Identifikationspotenzial hat:
»Früher konnte ich nicht begreifen, warum Eltern unablässig über ihre Kinder reden, mittlerweile ist mir aufgegangen, es hat nichts mit Liebe zu tun, sondern damit, dass wir alle unter Schock stehen. Man ist sprachlos […] angesichts der Machtübernahme, die man sich nicht vorstellen kann, bis man selbst zum Zeugen des eigenen Untergangs geworden ist.«
Man kann die x Markierer förmlich jubeln hören: »Jaaaa, genau so isses.« Und so liest man gemeinsam und hat doch wieder ein bisschen Social Media-Gefühl.
»Haben wir uns wirklich so ein Leben gewünscht, frage ich […] Ob du’s glaubst oder nicht, sagt er, ja.« Sofort markieren!
Am Ziel der Lesereise, dem Beginn der Sommerferien, fühlt man sich erholt wie nach einer Mutter-Kind-Kur an der Nordsee. »Meter pro Sekunde« ist ein westjütländisches Kunststück gegen die neue Einsamkeit. Ein Ringen um den gemeinsamen Nenner, der uns zusammenhält. Nicht nur in der Provinz!
Stine Pilgaard, »Meter pro Sekunde«, Roman, aus dem Dänischen übersetzt von Hinrich Schmidt-Henkel, Kanon Verlag, 252 Seiten. Erschienen am 16.02.2022.
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