Samantha Harveys »Umlaufbahnen« über das Menschsein im All –

Auf Seite 118 habe ich mir notiert: »Was wäre dieses Buch eigentlich ohne Adjektive?«. Die unterstrichene Stelle geht so: »Die Erde bei Nacht mit ihren dick bestickten urbanen Teppichen hat etwas Entschlossenes, Forsches, Klares an sich.«

Das ist schön, berührend, um noch mehr Adjektive hinzuzufügen, von denen es in diesem Bild wimmelt, weil sie funktional sind. Dringend gebraucht werden sogar, denn die Erzählhaltung ist extrem statisch und zugleich extrem schnell. Extrem eng und gleichzeitig unendlich weit. Es gibt – außer Essen, Schlafen und die Raumstation aufräumen – nichts zu tun und doch bietet sich der Komplett-Überblick auf unseren Planeten für die Perspektive Gottes an.

Dem widerstehen die Bewohner der Raumstation, die in vierundzwanzig Stunden sechzehn Mal die Erde umkreist. Sie konzentrieren sich stattdessen auf ihr Menschsein und versuchen, das der anderen zu erkennen. »Bei Nacht können sie zeigen, wo sie zuhause sind – dort ist Seattle, Osaka, London, Bologna, St. Petersburg und da Moskau«.

Angesichts ihrer engen Schicksalsgemeinschaft auf der Raumstation scheinen sich Konflikte innerhalb der Besatzung zu erübrigen: »Wir trinken den wieder aufbereiteten Urin der anderen. Wir atmen dieselbe wieder aufbereitete Luft.«

Irgendwann kennen alle die Geschichten der anderen, während ihr eigener Körper ihnen in der Schwerelosigkeit immer wieder fremd ist: »Wirklich zu dumm, dass Sie morgens beim Aufwachen, ohne hinzuschauen, nicht wissen, wo sich Ihr Arm befindet, dass Sie, wenn Sie keine Rückmeldung qua Gewicht erhalten, Ihre Gliedmaßen verlegen.«

Alle vertrauten Orientierungsmuster werden im Weltraum in Frage gestellt. Während bei Nacht die Erdbevölkerung ihre Anwesenheit mit Lichtern markiert, ist die Erde im Hellen einfach nur ein leerer Planet, »und nun lernen sie, die Erde bei Tag zu lieben. Die menschenlose Klarheit von Land und Meer.«

Noch nicht einmal das Wetter ist eine Orientierungshilfe. Die Crew beobachtet einen Super-Taifun der Kategorie fünf, von dem die Meteorologen schon wissen, wann er auf die Philippinen treffen wird, der aber, als er das tut, immer noch ruhig und schön daliegt. Aus ihrer Warte ist nichts von der Gewalt zu erkennen, der die Menschen am Boden ausgesetzt sind.

Vielleicht sollte man viel mehr »Führungskräften« auf der Erde ein Astronauten- (pardon: Kosmonauten-) Training angedeihen lassen. Dort bereitet man die Teilnehmenden auf die Schwerelosigkeit des Friedens vor: »Ihr werdet keine Nationen sehen, nur einen dahinrollenden, unteilbaren Globus, der keine Möglichkeit der Trennung kennt, geschweige denn Krieg«.

Samantha Harvey, »Umlaufbahnen«, aus dem Englischen übersetzt von Julia Wolf, Roman, dtv, 221 Seiten. Erschienen am 14.11.24.

»Alle neunzig Minuten der Peitschenknall eines neuen Morgens.«