»Für Polina« kommt exzentrisch daher, ist aber auf ärgerliche Weise konventionell –
Takis Würgers neuen Roman finde ich auf nervige und sogar gefährliche Art kitschig und rückwärtsgewandt. Letzteres deswegen, weil von »Bambi« bis Benedikt Wells immer zuerst eine liebende (aber zu starke und ungewöhnliche) Mutter aus dem Weg geräumt werden muss, bevor ein Junge anfangen kann, zum Mann zu werden.
Es ist auffällig, dass auch moderne Autoren sich dieses ödipalen Kniffs bedienen. Der konstruierte Plot: Die selbstbestimmte Abiturientin Fritzi steigt auf einer Italienreise mit einem Hamburger Marmorhändler ins Bett, wird zur selbstbestimmten Alleinerziehenden von Hannes und teilt ihr mittelloses, aber buntes Leben mit Dostojewski und einem mürrischen Uralt-Vermieter mit Uralt-Klavier in einem heruntergekommenen Gutshof. Außerdem häufiger Gast in der Kunterbunt-WG: Güneş, die türkische Bettnachbarin von der Entbindungsstation, ebenfalls alleinerziehend mit Tochter Polina, welche natürlich vom Schicksal für Hannes bestimmt ist.
Im Falle von Fritzi Prager wird dem weiblichen Lesepublikum von heute eine traditionelle patriarchalische Wunschvorstellung verkauft. Dass nämlich eine junge Frau gerne stark, klug und unabhängig sein kann und sich sogar noch im Angesicht des anstrengenden Alleinerziehendenlebens der Ehe verweigern darf, dann aber mit einem frühen Tod rechnen muss.
Ich bin sicher, dass das Identifikationspotential der Figur Fritzi Prager groß ist (deshalb auf Anhieb Bestsellerlisten-Spitzenreiter) und ihr Tod ein psychologischer Trick, um weniger selbstbestimmte Leserinnen zu beruhigen, dass ein allzu unabhängiger Lebensstil eben einen zu hohen Preis hat. Das wussten wir ja immer schon, nicht wahr?
Dass Fritzi Prager vor ihrem Ableben das Wort doch noch einmal an ihren geliebten Sohn richten darf, erinnert an die Sterbeszene in Forrest Gump (»Jeder Mensch hat einen Job im Leben. Mein Job war es, deine Mom zu sein.«) Selbst für den kitsch-resistenten Daniel Kaiser von EatREADSleep ist der Roman dann an manchen Stellen doch etwas »drüber«.

Für mich betraf das v.a. die Pippi Langstrumpf-Romantik in der Wohngemeinschaft der Villa Kunterbunt. »Die drei Moorbewohner hatten wenig Geld, aber sie hatten die alten Russen, die Plattensammlung, genug zu tun,[…] Sie alle lebten von den Sonnenaufgängen und der Ruhe« So ein Gesülze geht mir total auf die Nerven.
Ich bin ja gerade wieder in Vietnam unterwegs und hier steht man ganz offen zu einer allesbeherrschenden Kitsch-Romantik. Überall jaulen Schnulzen-Sänger mir unverständliche (zum Glück!) Verse aus den Lautsprechern, jedes Hotelzimmer quillt über vor Plastikblumen und jede Brücke hat Hunderte Lampions, Liebesschlösser und Selfie-Spots für Verliebte. Das halte ich alles viel besser aus als pseudo-moderne Bestseller-Autoren, die uns doch nur wieder alte Frauenbilder aus dem 19.Jahrhundert unterjubeln.
Takis Würger, »Für Polina«, Roman, Diogenes, 304 Seiten. Erschienen am 26.2.2025 .
Hier die Diskussion um »Für Polina« (ab Pos.9.01) bei der EatREADSleep Folge vom 11.04.2025, übrigens eine der längsten und intensivsten seit langem.
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