Vigdis Hjorts neuer Roman »Wiederholung« –
»Unni glaubte, Mutter habe Angst um mich, so wie die meisten Mütter Angst um ihre Töchter haben, davor, dass ein Fremder sie vergewaltigen oder überfallen könnte, aber Mutter hatte Angst davor, was ich selbst tun könnte, freiwillig. Das konnte ich niemandem erklären, nicht einmal mir selbst. «
Die Ich-Erzählerin, 16 Jahre alt, leidet unter ihrer kontrollierenden Mutter, die sie vor erwachender Sexualität zu schützen versucht und jeden ihrer Schritte überwacht. Je schlimmer das wird, desto dringender will das Mädchen erste Erfahrungen mit Jungs machen. Damit sie auf Partys gehen kann, muss Freundin Unni als Alibi herhalten.
Die Erzählerin führt ein Tagebuch und spürt, dass sowohl die Angst ihrer Mutter, als auch ihre eigene Entwicklung ungewöhnlich ist, »dass in mir etwas Früheres wohnte«. Als ihre Mutter das Tagebuch liest, dem vor allem Fantasien anvertraut werden, hält sie das Erfundene für Realität und zeigt die Einträge dem Vater, der daraufhin völlig die Fassung verliert. Mutter und Tochter gehen auf maximale Distanz, klären nie ganz, was geschehen ist, aber die Ich-Erzählerin spürt: »das Verbrechen war ein anderes, eines, mit dem keine von uns beiden in Berühung kommen durfte«.
»Dass ich mich an einem Tatort befand« wird für sie noch klarer, als die Eltern nach dem Tagebuch-Eklat umziehen in ein großes Haus in einer besseren Gegend. Die Mutter betont, sie vermisse die alte Wohnung kein bisschen »und das ist verständlich. Wer vermisst schon einen Tatort?« Die Ich-Erzählerin und ihr Bruder werden als älteste Geschwister in einen Anbau »in angemessener Entfernung« einquartiert, während die zwei jüngeren Kindern bei den Eltern im Haupthaus bleiben dürfen. Norwegischer Wohlstand trifft emotionale Kälte.
Vigdis Hjort bietet viel soziologischen Hintergrund, und häufig mehr “telling” als “showing”, so als ob sie manchmal die Lust und Geduld verliert, das Ganze szenisch zu setzen. Oder vielleicht traut sie uns, dem Lesepublikum, nicht zu, dass wir aus dem Szenischen die richtigen Schlüsse ziehen würden.
Bei Claire Keegan, die ja auch extrem kurze Kindheits-Romane schreibt, wird das Problem der kindlichen Unwissenheit konsequent aus kindlicher Perspektive gelöst. Mit dem verblüffenden Ergebnis, dass das identifikatorische Potenzial der Texte bei Erwachsenen sehr hoch ist. Jeder ist schließlich mal Kind gewesen, aber eben nicht Jede Soziologin.
Aus der Sicht der erwachsenen Wissenschaftlerin bekommen die Eltern viel (zuviel?) Verständnis. Z.B. in der Frage des Vertrauensbruchs. Dass Tagebücher geheime Orte sind, die nicht aufgebrochen werden dürfen, kommt später nicht zur Sprache. Auch der Vater hat kein Unrechtsbewusstsein. Er betrinkt sich und jammert, wie schwer es sei, ein Mensch zu sein. Die Erzählerin bescheinigt ihm die »fast strindbergische« Schönheit dieses Satzes und gerade von diesem Autor ist ja bekannt, dass er ein egozentrisches Ekelpaket war. Mutter und Vater, so beobachtet die Ich-Erzählerin, scheinen, sich zu arrangieren und »waren beide gefangen, aber nicht im selben Käfig.«
Die Ich-Erzählerin entdeckt die Schriftstellerei als Ventil für unterdrückte Wahrheit. »und mit der Zeit entwickelte ich Methoden, um meine Überwacher zu überlisten, eine Codesprache, die es mir erlaubte, das auszudrücken, was ich auf dem Herzen hatte und was mir durch den Kopf ging, ohne dass meine Überwacher es hätten entdecken können.« Ihr damaliger Tagebucheintrag hatte ihr ja schon gezeigt, »dass das, was wir erdichten, von größerer Bedeutung sein kann als das, was wahr ist, dass es wahrer sein kann.«
Sie würdigt das Schreiben und Geschichtenerzählen als einen Weg, den Sinn hinter dem Leiden zu finden und es so zu überwinden. »Wenn jedoch alles wiedererlebt und durchlebt ist, wenn der lähmende Schmerz abnimmt, wirst du vermutlich erkennen, dass du eine neue Einsicht in die Bedeutung dieser spezifischen Erinnerung gewonnen hast; deshalb ist sie zu dir zurückgekehrt: um dir etwas zu erzählen.«
Vigdis Hjorth, »Wiederholung«, aus dem Norwegischen von Gabriele Haefs, Roman, S.Fischer, 158 Seiten. Erscheint am 25.02.2025.
Hier das lebhafte Interview mit Vigdis Hjort, in dem sie erklärt, wie die fulminante erfundene Schilderung dessen zustande kam, was die Eltern des Mädchens so aus der Fassung brachte: »Sie hätte doch ihr Tagebuch nicht enttäuschen können«. Hjort erklärt außerdem, warum der norwegische Literaturbetrieb ein Erfolgsmodell ist.
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