Claudia Schumachers »Liebe ist gewaltig« feiert einmal mehr die auffällige Resilienz von Mathematikerinnen –
»Natürlich bin ich kein Opfer!«. Ausgerechnet Julias (Jules) unbeugsamer Stolz macht sie so steuerbar. Als Überlebende eines dysfunktionalen, gewalttätigen Familiensystems vertraut sie auch als Erwachsene den einmal erlernten Strategien. Früh zeigt sich ihre stählerne Willenskraft, die ihr später zum Verhängnis wird, als es darum geht, endlich im eigenen Mensch-Sein anzukommen. Ist jemand in der Schule oder im Sport erfolgreicher als sie, legt sie sich zur Strafe Kleiderbügel ins Bett.
Als Erwachsene beweist sie Ehrgeiz und extremen Anpassungswillen, als sie zu Manager Thilo in die Schweiz übersiedelt. Der weiß diese Eigenschaften in einer Partnerin zu schätzen und genießt den gemeinsamen gesellschaftlichen Aufstieg. Es ist der Höhepunkt von Jules gesellschaftlicher Anpassungsleistung und der Tiefpunkt ihrer Selbstverleugnung, an dem sie sogar mit dem einzigen Menschen bricht, den sie liebt: ihrem Bruder Bruno. In dieser Konstellation entdeckt Thilo an sich Reaktionsmuster, die Julia offensichtlich mit in die Beziehung geschmuggelt hat. »Was hat sie mit ihm gemacht? Er ist kein Mann, der Frauen schlägt«, denkt er verblüfft und dann sofort: »Was, wenn die Nachbarn ihren Lärm hören?«
Die Fassade, die Julia als Kind mitgeholfen hat aufrechtzuerhalten, um das Image ihrer Eltern, zweier Anwälte, in der Öffentlichkeit zu schonen, übernimmt er gleich mit und empfindet die brutale Prügelei von Julias Vater als normale Ausrutscher, die in jeder Familie passieren.
Eine der für Leser:innen befriedigendsten Szenen ist daher die Stelle, als Julia und Thilo ein Videospiel zusammen bestreiten und sie ihn als gegnerische Spielfigur nach allen Regeln der Gamer-Effektivität abschlachtet. » […] jedes Spiel endet mit der ultimativ grausamen Schändung seiner Leiche.« Da beginnt Thilo zu ahnen, wen er da eigentlich an seiner Seite hat.
Was mir bei den vielen Empowerment-Romanen, die ich in letzter Zeit gelesen habe, auffällt, ist, wie viele Erzählstimmen Mathematikerinnen sind: Tilda bei Caroline Wahls »22 Bahnen«, Jella bei Ruth Maria Thomas’ »Die schönste Version« und jetzt Jule bei »Liebe ist gewaltig«, die ihren Vater erst richtig gegen sich aufbringt, als sie ihn im Kopfrechnen schlägt.
Es scheint fast, als ob der komplexen Toxizität von Familie und Gesellschaft nur die Strenge und Struktur von Zahlen entgegengesetzt werden kann. »Das Chaos verliert« beschreibt Julia ihren befriedigenden Halt in der Mathematik. Für alle, deren Stärke nicht das Rechnen ist (oder von denen das die Schulzeit über behauptet wurde), sind das keine guten Nachrichten. Weibliche Selbstermächtigung funktioniert offensichtlich am besten mithilfe jener Eigenschaften, die traditionell als „männlich” gelten, allen voran analytisches, berechnendes Denken.
Die Sprache ist bei Claudia Schumacher auf jeden Fall auch eine Gewalt für sich und ist wirklich beeindruckend. Bei den ausführlichen, nachhallenden Schilderungen körperlicher Gewalt in Missbrauchsromanen wie diesem – so schockierend wichtig sie sind – befürchte ich allerdings, dass die Ausweichformen zu körperlicher Aggression wieder in den Hintergrund treten. Dass die Täter:innen, die sich statt Prügel verbaler und seelischer, passiv-aggressiver Gewalt, bedienen, es sich in diesem Schatten wieder unbehelligt gemütlich machen können.
Claudia Schumacher, »Liebe ist gewaltig«, Roman, dtv, 376 Seiten. Erschienen am 18.05.2022
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