Iris Wolffs »Lichtungen«

Schon vor der Nominierung für den Deutschen Buchpreis wurde »Lichtungen« von der Kritik in den höchsten Tönen gelobt. Denis Scheck teilte in »Druckfrisch« am 21.01.24 seine »lichterlohe Begeisterung« und gab eine unbedingte Leseempfehlung ab.

Rumänien in und kurz nach der Ceaușescu-Zeit: Alle warten auf das Ende der Diktatur und sobald es möglich ist, reisen Viele aus. »Die Auswanderung war unausweichlich. Wie eine Sucht. Jeder fürchtete, der Letzte zu sein.« Lev widersetzt sich dem Sog und bleibt, während seine Kindheitsfreundin Keto sich aufmacht, Europa zu entdecken.

Neun rückwärts gezählte Kapitel symbolisieren den Weg Levs zurück zu sich selbst nach traumatischen Erfahrungen, die zunächst wie im Nebel liegen. Ein Handlungsstrang ist das stückweise Zusammensetzen der zerrissenen Erinnerung, die sich wie nach einer Explosion auf die Landschaft zu verteilen scheint.

»Orte sind für mich so wichtig wie Figuren«, sagt Iris Wolff im besagten druckfrisch-Interview. Der Wald im Norden des Landes, in den Lev als Waldarbeiter immer tiefer eindringt, wird zu mehr als einem Sinnbild. Die Natur, diese »Landschaft, die ohne Lichter und Menschen auskam« wird zur eigenständigen, durchaus aufdringlichen Figur: »Büsche pressten sich gegen die Fensterscheiben, als verlangten sie Einlass.«

Rumänien, mit seinen Tretminen der Erinnerung, sei »ein Europa in Miniatur«, sagt Wolff. Die Bevölkerung des Banat und Siebenbürgens sei österreichisch-ungarisch gewesen, rumänisch oder eben auch mal deutsch. »Zerbrochene nationale Identitäten« seien daher Leitmotiv des Buches. Aus ihnen und der Tatsache, dass Katastrophen, wie Kriege oder Tschernobyl, grenzenlos sind, leitet Wolff ihr Fazit ab. »Die Zuordnungen taugen nicht«

Ihre eigene Biografie ist aufgespannt zwischen Siebenbürgen und Deutschland und aus dieser Erfahrung heraus lässt sie die Figuren im Buch sprechen. »Zugehörigkeit […] ist vielleicht nichts anderes als eine Entscheidung.« Man müsse sich woanders beheimaten, sagt Wolff. Zum Beispiel in Büchern. Geschichten ließen erkennen, was man jemandem antue, wenn man ihn/sie leiden lasse.

Die Schrecken verbreitende Geheimpolizei Securitate wird im Buch nie mit Namen genannt, ganz so, als ob man das Wort nicht mehr aussprechen dürfe. Es ist immer nur von »Polizisten« die Rede, aber die Angst der Figuren ist spürbar und lädt das Wort mit den Konnotationen auf, die es damals in Rumänien hatte. »Polizist« steht für Machtmissbrauch und Korruption, Obrigkeitshörigkeit und Denunziation, erzeugt aber als menschliche Gegenreaktion auch Solidarität, geschickte Sabotage und gelungene Flucht.

Keto ist, im Gegensatz zu Lev, immer in Bewegung, hält sich lange in Paris auf und lernt als Straßenmalerin viele Menschen und ihre Geschichten kennen. Jedes der neun Kapitel hat einen Cliffhanger und die alles begleitende Frage ist: Werden Keto und Lev ein Paar oder nicht?

»Ich mag die Schwebe«, sagt Wolff und ihre Sprache, die melancholisch, direkt und voller Zärtlichkeit ist, stelle sich beim Schreiben von selbst ein. Im Alltag gehe es ja oft um Schärfe, in der Poesie aber um Deutungsoffenheit.

Meine persönliche Lieblingsstelle ist diese hier: »Es musste einen Unterschied geben zwischen einer Tür, die zufällt, um nach kurzer Zeit wieder geöffnet zu werden, und einer Tür, die sich für unbestimmte Dauer schließt. Wieso hatte er keinen Unterschied hören können?«

Lev bekommt irgendwann seine Erinnerung zu fassen – nur um sich sagen zu lassen: »Du kannst jetzt loslassen«.

Iris Wolff, Lichtungen, Roman, Klett-Cotta Verlag, 256 Seiten. Erschienen am 13.01.2024. Cover:NetGalley