»Wir leben nicht länger. Wir sterben länger!«. So das frustrierende Fazit von Krankenschwester Kay, die angesichts des Siechtums ihres Vaters mit ihrem Mann Cyril, einem Arzt, einen Selbstmordpakt eingeht. Nach dem Abendessen an Kays 80. Geburtstag ist Schluss. Selbstbestimmt wollen die beiden in den Tod gehen, bevor er sie holt – oder eben auch nicht.
Lionel (eigentlich Margaret Ann) Shriver ist eine amerikanische Journalistin und Schriftstellerin, die in Großbritannien (und neuerdings in Portugal) lebt. Ihre Analysen der britischen Gesellschaft und der EU sind das Witzigste, das ich seit Bill Bryson gelesen habe.
Mein erster Versuch, Shriver zu lesen, geht aufs Jahr 1989 zurück. Ihr Erstling »Female of the Species« (1987) hatte mich in einem Bostoner Buchladen angesprochen, stellte sich beim Lesen dann aber als »over my head« heraus. Das schien nicht nur mir so zu gehen. Der Erfolg für Shriver kam erst sechs (!) Romane später, dann aber massiv. »We need to talk about Kevin« (2003) war ihr fulminanter Durchbruch, wurde mit Tilda Swinton verfilmt und packte auch mich.
Shriver kann groteske Gewalt in grausam schöne Bilder verpacken, ihr Handwerk ist brillant und ihr Hintergrundwissen offensichtlich endlos. In »Lass uns doch noch etwas bleiben« wird die europäische Zeitgeschichte des ausgehenden 20.Jahrhunderts auf maximal effektive Art zusammengefasst.
»Nachdem die Berliner Mauer zu touristischen Souvenirs zerbröckelt war, wurden Tyrannen in Osteuropa abgesetzt oder gelyncht. Deutschland war wiedervereinigt, und eine Kaskade sowjetischer Republiken, von denen die meisten Menschen im Westen noch nie gehört hatten, erklärten ihre Unabhängigkeit – alles zusammengenommen verleitete einen prominenten Politologen dazu, das »Ende der Geschichte« zu postulieren, was bei zwei noch nicht lange zurückliegenden Weltkriegen eine reizvolle Aussicht war.«
So rasant der Parforceritt durch Nebenfiguren und historische Begleitumstände, so ausgedehnt gestaltet Shriver dann die verschiedenen Szenarios um besagte Deadline herum. Nach einem knappen Drittel des Buches ist die erste Version bereits auserzählt. Was dann folgt, ist eine Art »Smoking/No smoking« Wegscheiden-Spielerei. Wie im berühmten Alain Resnais Film in 12 Kapiteln. Die Variationen rund um die Frage »Tun sie’s oder tun sie’s nicht?« sind einfallsreich, bisweilen absurd, und unterhaltsam, kein Zweifel.
Da wird ein »archetypischer Lieferwagenrüpel« immer wieder zum Killer, wenn nicht Kay und Cyril doch gemeinsam in Institutionen namens »Journey’s End« oder »Close of Day Cottages« vor sich hinsiechen. Oder nur einer von beiden die Tabletten nimmt und der/die Übriggebliebene gar nicht so schlecht weiterlebt und über neunzig wird. Im Kryonik-Projekt der Firma »Sleeping Beauty Ltd.« lassen sich die beiden rechtzeitig einfrieren, nur um nach dem Wecken entsetzt festzustellen, dass weder die englische Sprache, noch ihre Liebe mitkonserviert wurde.
Niemand ist vor Shrivers Spott sicher. Auch das eigene politische Lager nicht. »Eine der schlimmsten Nebenwirkungen des Scheintods war die grausame Unfähigkeit, sich selbst zu belügen. Er war weder Sozialist noch ein Verfechter des Egalitarismus gewesen. Er hatte den Sozialismus nur im Interesse seiner eigenen Glorifizierung vertreten und sich allen anderen stets überlegen gefühlt.«
Trotz all dieser grandiosen Einfälle und den tiefen Einblicken in die administrativen Abgründe von Brexit, Corona und National Health Service, wirken die ständigen Wiederholungen bis zur jeweiligen Handlungsalternative ab der Hälfte des Buches ermüdend. Zumal alle Fäden doch wieder beim »ersten letzten Abendmal« zusammenlaufen. Bei der Erkenntnis, dass man den Chardonnay bis zum letzten Tropfen leeren sollte. »Wir hatten ein schönes Abendessen, oder? Und ein schönes Leben.«
Lionel Shriver, »Lass’ uns doch noch etwas bleiben«, Roman, aus dem amerikanischen Englisch übersetzt von Bettina Abarbanell und Nikolaus Hansen. Piper, 352 Seiten. Erschienen am 27.06.2024.
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