Der Schulbeginn treibt mich immer noch jeden Herbst in die Schreibwarenabteilungen, obwohl ich schon lange nicht mehr Lehrerin oder Schülerin bin. Aber mir gefällt die konspirative Sammeltätigkeit listenbewaffneter Eltern und wie sie sich gegenseitig Tipps geben, wo die HB-Bleistifte zu finden sind und die linierten DIN-A 5 Doppelhefte mit Rand. Beim Regal mit den historisch wirkenden Füllern komme, greife ich wie hypnotisiert nach einem Päckchen pinker Tintenpatronen. Wow!

Zuhause stecke ich die neuen Patronen in meinen alten Pelikan und empfinde diebische Freude. Weil es nämlich in der Schule verboten war, etwas anderes als Königsblau zu verwenden. Mit Rosa hätte ich noch in der neunten Klasse nicht ankommen brauchen. Wir Mädchen liebten natürlich die verschiedenen Tintenfarben, die damals auch schon auf dem Markt waren, aber wir fügten uns irgendwann. Wir hatten nämlich eine neue Entdeckung gemacht: den Tintenkiller, und der funktionierte ja nur mit Königsblau. Tintenkiller wurde natürlich auch schnell verboten, was schwer zu kontrollieren war. Wie will man Unsichtbarkeit verbieten?

Vielleicht entscheiden sich deshalb etliche Frauen jenseits der 60 für ein Leben in größtmöglicher Unsichtbarkeit, unterm Radar der Gesellschaft. Das ist ja auch eine Form von Freiheit und um die geht es beim Älterwerden. Heidenreich (81) hat sich gegen die sprichwörtliche Unsichtbarkeit älterer Frauen entschieden. Vielleicht hatte sie keine andere Wahl, weil sie immer schon aufgefallen ist mit ihrer Lautstärke, ihrer flotten Schnauze und der Medienpräsenz seit den Siebzigerjahren.

Sie ist dankbar für diese, ihre Art bemerkt zu werden. Und nicht gemessen zu werden an dem Gelingen von Schönheits-OPs oder dem VIP-Status ihres Partners. Wenn sie in den Spiegel sieht, begegnet ihr, was sie am Älterwerden toll findet: eines jener »Gesichter prall mit Leben gefüllt«.

»Alles über 60 ist ein Geschenk« jubelt sie angesichts der Zipperlein und schweren Krankheiten, die einen zunehmend befallen. Zwar sei Optimismus und Begeisterungsfähigkeit keine Sache des Alters, wie man an ihr sähe und es gäbe 40jährige (vielleicht gerade 40jährige), die wenig schwungvoll seien und von Alltagsverantwortung niedergedrückt. Aber die Trägheit des Geistes und die Müdigkeit des Herzens, die Menschen mit dem Älterwerden befallen kann, stört Heidenreich und führte in der Vergangenheit zu Trennungen. Leute, die resignieren, nicht mehr an Menschen interessiert sind, an Literatur oder Kunst und die nicht mehr an die Liebe glauben, täten ihr nicht gut und würden nach und nach aussortiert.

Ein Genuss beim Hören (Heidenreich liest selbst) sind die literarischen Zitate von Autor:innen, die Heidenreich, wie früher in ihrer legendären Sendung »Lesen« hemmungslos bewundert und zitiert: Susan Sontag, Julian Green, Joan Didion, J.R. Moehringer (»Tender Bar«, übrigens die beste Alternative zu J.D. Vances Memoir »Hillbilly Elegy«) und Jane Campbell. Besonders deren Geschichtensammlung »Kleine Kratzer« habe es ihr angetan. Der Originaltitel »Cat Brushing« bietet noch eine unfreiwillige Verbindung zu Vances ultrakonservativen Diktum von den »childless cat ladies«. Es sind Geschichten über störrische, selbstbewusste und triebgesteuerte Alte, mit denen Campbell das gängige Bild vom Seniorentum als einer Phase des Cooling down und der zunehmenden Milde konterkariert.

Es geht um alte Menschen, die sich nichts gefallen lassen. und wer je eine unzufriedene Telekom-Kundin im Handyshop erlebt hat, kennt die Überraschung des jungen Kundenberaters, der Mutti dann doch giftiger erlebt als er es in der Fortbildung zum profitmaximierenden Umgang mit Senioren gelernt hat. Besonders, wenn noch eine zweite dazukommt und sie den Technik-Verkäufer gemeinsam in die Defensive drängen. In diesem Moment wünscht er sich, sein Unternehmen hätte auch schon komplett auf Chatbots umgerüstet.

Die immer neuen Gemeinheiten der Technik können für alte Menschen eine echte Behinderung darstellen und Heidenreich erzählt davon, wie sie mittlerweile in Amsterdam nicht mehr in der Lage ist, eine Eintrittskarte fürs Museum zu kaufen. Eine weitere Beeinträchtigung seien die konservativen Spaßbremsen in Gestalt der eigenen Kinder. Die nämlich hätten Sorge, dass Mom und Dad mit ihrer Coolness das Erbe durchbringen, das sie schon fest für den Häuslebau verplant haben.

Abenteuerlust und Genuss kosten natürlich und Heidenreich vergisst nicht die um sich greifende Altersarmut. Frauen seien im Alter ärmer, was aber oft dadurch ausgeglichen werde, dass sie geschickter im Knüpfen von Netzwerken seien. Somit seien Frauen besser gerüstet, die zweite Seuche, die im Alter um sich greift, in den Griff zu bekommen: die Einsamkeit. Heidenreich hat keine Kinder, aber jede Menge Freund:innen, Männer und Haustiere, auf die sie zugreifen oder zurückblicken kann. Eines davon hat sie reich gemacht (berühmt war sie ja schon): Nero Corleone, der legendäre Italo-Kater, nach dem Hunderte schwarzer Katzen in Deutschland benannt wurden.

A propos reich. So betrachtet Heidenreich sich nicht, aber sie staunt angesichts ihrer ärmlichen Nachkriegsherkunft über das Maß an finanzieller Absicherung, das sie erreicht hat und das eine Quelle täglicher Dankbarkeit ist. Dankbarkeit ist ohnehin das alles überragende Gefühl ihrer Überlegungen zum Altern. Dass junge Leute sich auf Straßen festkleben, findet sie grotesk symbolisch für die Weigerung eigene Wege zu verfolgen angesichts der scheinbaren Unmöglichkeit, in dieser Welt überhaupt noch Lebensziele zu entwickeln.

Die Vorwürfe der Klimakleber will sie nicht auf sich sitzen lassen. Die Alten ihrer Generation hätten nicht nur zerstört und verbraucht, sondern Vieles auf den Weg gebracht, was die Grundlage woken Lebenstils ist. »Wir haben Greenpeace gegründet und spenden ein Vermögen an Ärzte ohne Grenzen.« Genuss und Lebensfreude erzeugen eben ihrerseits zufriedene Großzügigkeit. Ohne das Spendenaufkommen der Best-Ager könnten die meisten gemeinnützigen Vereine und NGOs einpacken. Auch Anti-Diskriminierung sei die Erfindung ihrer Generation. Die Paragrafen 218 und 175 hätten sie und ihresgleichen »geknackt« und damit die Liberalisierung von Schwangerschaftsabbruch und Homosexualität vorangetrieben, um die Biografien der nachfolgenden Generationen mit größtmöglicher Freiheit auszustatten.

Ihre eigene Lebensgeschichte scheint ihr noch zu frisch für eine Bilanz. »An eine Autobiografie traue ich mich noch nicht« meint die 81jährige und zitiert lieber Astrid Lindgren: »Es gibt kein Verbot für alte Weiber, auf Bäume zu klettern«. Dann kann man, ungesehen von denen da unten, über die Kronen hinwegsehen. Oder Tintenkiller benutzen. Oder gleich pinke Tinte.

Elke Heidenreich, »Altern«, Hörbuch ungekürzt, gelesen von Elke Heidenreich, Roof Music, Dauer: 2 Stunden 49 Minuten. Erscheint am 28.08.2024. Cover_NetGalley.