Giovanni di Lorenzos Gesprächskunst in »Vom Leben und anderen Zumutungen« –
Das Prominenten-Interview gehört heutzutage zu den Aufgaben, an denen sich auch Top-Journalisten vergebens abarbeiten. Die vorbereiteten Antworten wirken manchmal wie eine Powerpoint-Präsentation zur Image-Festigung und oft gelingt es nicht, in der glatten Fassade eine Lücke zu finden.
Giovanni Di Lorenzo ist aber als ZEIT-Chefredakteur nicht nur im Auftrag seiner anspruchsvollen Leserschaft unterwegs, sondern scheint auch ein leidenschaftlicher Menschen-Verstehenwoller zu sein. In jedem seiner Interviews lenkt er die Gesprächspartner auf unbekannteres Terrain. Nach dem Motto: »Interessant, aber lassen Sie doch mal hören, wer Sie sonst noch sind.«
Am lässigsten gehen diejenigen mit seinem hartnäckigem Nachhaken um, die es sich leisten können. Weil sie Alleinherrscher sind (Orban, Erdogan), Pensionäre (Merkel, Udo Jürgens) oder Papst. Di Lorenzo stellt mit einiger Sorge fest, dass diese Sorte VIPs auch im Angesicht von Shitstorms auf Social Media gelassen bleiben und bei der Autorisierung des Interviews selten einen Wortlaut geändert haben wollen. »Können sich denn nur noch Autokraten oder Stellvertreter Gottes auf Erden das Recht auf wirklich freie Meinungsäußerung leisten?«
Di Lorenzo beklagt, dass bei denen, deren berufliche Existenz von der Gunst des Massenpublikums abhängt »nur noch ein anwaltlich gefiltertes Bild […] die Öffentlichkeit erreichen darf.« So verbot das Management von Helene Fischer dem Verlag den Nachdruck des ZEIT-Interviews ganz.
Gerne werden Interviews als Seitenhiebe auf Kontrahenten genutzt. Leonhard Birnbaum, seit 2021 Vorstandsvorsitzender bei E.ON, antwortet auf die Frage »Glauben Sie, dass wir als Menschen schlau genug sind, die Welt zu retten?«, dass es ja wohl nicht an der Industrie läge, wenn »im Land der Dichter und Ingenieure« (di Lorenzo) die Energie- und Verkehrswende nicht vorankämen. »Wenn, dann scheitern sie an der Gesellschaft, an der Politik, an den Menschen. Die Technik ist das geringere Problem.«
Dazu passt, dass di Lorenzo mit einem der verantwortlichen Menschen, Robert Habeck, gleich zwei Interviews geführt hat. Eines voller Enthusiasmus noch auf dem Weg zum Ministeramt und knappe fünf Jahre später, im August 2023, als die »Macht als Vizekanzler und Wirtschaftsminister […] wie eine Bleiweste auf ihm zu lasten« scheint. Er sei »als Demokrat optimistisch, dass am Ende für Lösungen abgestimmt wird und nicht für die Verhinderung von Lösungen.« betont er und di Lorenzo kommt es so vor, als wolle Habeck sich selbst Mut machen.
Wie unverbraucht wirkt dagegen eine junge Pragmatikerin von heute. Mit dem Interview von Penelope Tzanakakis, neun Jahre alt, hat di Lorenzo ein Kinderportrait voller Originalität geschaffen, das gleichzeitig repräsentativ für die heutige Mädchengeneration ist. Penelope geht auf Fridays-for-Future-Demonstrationen, weil das heutzutage einfach dazugehört, schreibt für die Schülerzeitung, ermahnt in ihren Pausen die älteren Schüler zum Mülltrennen und will später einmal Investment-Bankerin werden. Auf die Frage, ob sie jemandem hinterhereifere, um ihre Ziele zu erreichen, sagt sie: »Nein. Ich habe mich als Vorbild, ich gehe einfach ins Leben rein.«
Ein Selbstbewusstsein wie ein Echo aus einer vorangegangenen Frauengeneration, der auch Sabine Rückert, streitbare Gerichtsreporterin und di Lorenzos Kollegin bei der ZEIT, angehört. Auf manche, ihn eingeschlossen (zumindest zu Beginn ihrer Zusammenarbeit), wirkt sie mitunter einschüchternd und hält das auch für notwendig. »Was mir auf die Nerven geht, ist diese um sich greifende Hyperempfindlichkeit.« Missstände, so Rückert, »werden durch ständiges Gejammer nicht besser. Missstände werden durch Selbstermächtigung besser.«
Giovanni di Lorenzo, »Vom Leben und anderen Zumutungen. Gespräche«, Kiepenheuer&Witsch, 325 Seiten. Erschienen am 2.11.2023. Cover:KiWi.
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