Selten habe ich Zögerlichkeit und Ambivalenz so nüchtern und präzise ausgedrückt gelesen, wie in »Zonen der Zeit« von Michaela Maria Müller. Beide Hauptpersonen bekommen einen eigenen Ich-Erzähler in eigenen Kapiteln, die abwechselnd schlicht mit »Jan« oder »Enni« betitelt sind.
Jan, verheirateter Historiker mit zwei Kindern, der im Berliner Archiv des Auswärtigen Amtes Akten zur Wendezeit bearbeitet, weiß nicht, was er will. Enni, Feuerwehrfrau und an schwierige Einsätze gewöhnt, hat ihre eigenen Vorstellungen von effektiven Abläufen. »Ich bin Enni, du bist Jan, und du magst Haselnusseis. Jetzt komm, los geht’s.«
Enni muss zugeben, dass sie so recht keine Worte findet für das, was sie und Jan verbindet. »Es fühlte sich wie ein Irrtum an, wie zwei Fußgänger, die sich auf dem Gehweg anrempelten, weil sie es nicht geschafft hatten, einander auszuweichen.«
In Jans Zweitwohnung am Alexanderplatz sieht Enni ein Familienfoto mit seiner Frau und den zwei Kindern, die auf dem Land in Süddeutschland leben. Sie erkennt darauf ein Team mit funktionierenden Abläufen. »Man merkte, dass das der Grundton ihres Zusammenseins war: ein konzentriertes Miteinander.«
Grundehrlich wie Jan ist, sagt er seiner Frau, dass Enni bei ihm übernachtet. Mit dem Ergebnis, dass sie im Halbstundentakt anruft und Enni noch vor Sonnenaufgang ihre Sachen packt, ohne dass sie sich weiter hätten annähern können. Als Jan schließlich wieder nach München fährt, hat seine Frau einen Entschluss gefasst, mit dem er nicht gerechnet hat.
Nach der verkrampften Übernachtung in Berlin, ist sogar Ennis Ich-Erzählerin vorübergehend ratlos: »Wir hatten uns aufeinander zubewegt wie zwei Pfeile auf dieselbe Dartscheibe. Nun steckten wir nebeneinander fest.«
Das Interessante an der Romanhandlung ist, dass wir ab diesem Zeitpunkt den Figuren, besonders Jan, nicht mehr beim Agieren zuschauen, sondern im Nachhinein mit den, zum Teil aufregenden, Ergebnissen ihrer Entschlüsse konfrontiert werden.
Der passive Jan stellt die überraschte Leserin vor vollendete Tatsachen. Soviel Mut hätte man ihm nicht zugetraut. »Die Entscheidung zu kündigen, traf mich unvorbereitet, aber wie hätte es anders sein können. Ich war nie vorbereitet. Soweit kannte ich mich inzwischen.« Jan hat sogar auch noch eine bezahlbare Zweizimmer-Wohnung in Kreuzberg gefunden und man fragt sich: »Wie hat er das denn angestellt?«
Auch Enni leitet, unabhängig von Jans Entscheidungen, einen Ortswechsel nach Berlin ein. Einer ihrer ersten Wege führt sie ins ägyptische Museum, nachdem sie massenweise Podcasts über Tutenchamun gehört hat. Kunst ist eine starke Verbindung zu Jan, der sich von Paul Klee inspirieren lässt und Enni damit berührt: »Der Engel blickte einfach durch etwas anderes hindurch, das größer war als ich.«
Als die beiden ihre Ausflüge an die Spree wieder aufnehmen, kommen die Worte und ihre Geschichte wieder so in Fluss wie zu Beginn des Romans. Enni hat Jan nicht aufgegeben, obwohl sie zunächst ohne ihn an ihrem neuen Zuhause baut. Gerade weil sie ihren eigenen Fortschritt immer im Blick hat, fällt es ihr leicht, seine Eigenheiten zu respektieren: »Wenn er meinte.«
Michaela Maria Müller, »Zonen der Zeit«, Roman, Quintus, 184 Seiten. Erschienen am 13.03.2024.
1 Pingback