Der späte Erfolg von »Gentleman über Bord« –

Henry Preston Standish, Börsenmakler in der renommierten New Yorker Firma Pym and Bingley, ist die Sache im ersten Moment vor allem unangenehm. Beim Betrachten eines außergewöhnlich schönen Sonnenaufgangs irgendwo zwischen Honululu und Panama fällt er von Bord der »Arabella«, eines US-Frachters, der auch eine Handvoll Passagiere befördert.

Die Brieftasche mit Reiseschecks, Familienfotos und alten Eintrittskarten ist durchnässt und von Schuhen, Jacke und Weste muss er sich aus Gründen der Kraftersparnis bald trennen. Das Entkleiden zögert er lange hinaus, denn er trägt – aus einer der frivolen Launen seiner Midlife-Crisis heraus– bunt gestreifte Boxer-Shorts. Was werden Besatzung und Passagiere denken, wenn man ihn so wieder an Bord zieht? Was zweifelsohne sehr bald der Fall sein wird, wenn sein Fehlen beim Frühstück bemerkt wird …

Doch der Koch, der Standish wegen seiner exzentrischen Frühstücksgewohnheiten als »Mann der verlorenen Eier« abgespeichert hat und ihn als Letzter um fünf Uhr an Deck sieht, vermisst Standish bis zum Abend nicht. Auch nicht, als er am frühen Nachmittag dessen verlorene Eier in den Ozean entsorgt.

Die Angelegenheit ist für Standish schon deshalb ärgerlich, weil er gerade begonnen hat, sein Leben zu genießen und sich so gesund wie nie zu fühlen: »Der kratzende Raucherhusten, den er gehabt hatte, als er vor einigen Monaten seiner Frau davonlief, war vollkommen verschwunden.«

Statt zusammen mit den anderen Fahrgästen zu frühstücken, sieht er nun ungläubig dem monströsen braunroten Heck der Arabella hinterher, das ihn an den Hintern eines Pavians im New Yorker Zoo erinnert. Statt um Hilfe zu rufen, bemüht er sich um Gelassenheit: »Die Standishs waren keine Schreihälse.«

Während Standish wie selbstverständlich daran glaubt, dass sein Fehlen bald bemerkt wird, weil er schließlich seit zwei Wochen (genauer 13! Tagen) Teil des Passagier-Mikrokosmos auf der Arabella ist, sind alle am Tag seines Verschwindens auf die ein oder andere Weise nur mit sich selbst beschäftigt. Heute würde der Autor statt des kapriziösen »Arabella. New York.« vielleicht einen fetten Schriftzug »Instagram. Menlo Park.« aufs Heck des empathielosen Kahns setzen.

Die Parallelen zur Haifisch-Gesellschaft im post-Depression Amerika sind deutlich: »Der erste Gedanke des Kellners war, dass er sein Trinkgeld nicht bekommen würde, und sein zweiter Gedanke war, dass er bedauerte, die gepunktete Krawatte nicht geklaut zu haben.«

Als Standishs Fehlen endlich offenbar wird, sind sich alle Mitpassagiere, ausgehend von ihrer eigenen Wahrnehmung, einig, dass er Selbstmord begangen hat. Die Vermutungen gipfeln in der Aussage, dass keine Frau der Welt einen Freitod rechtfertigt.

Lewis’ Kurzroman von 1937 ist nicht nur stellenweise zum laut Lachen, sondern erstaunlich passend für unsere Zeit. Der Autor, ein begabter Journalist, Drehbuch- und Romanschreiber, ist seit 73 Jahren tot.

Während »Gentleman über Bord« von der zeitgenössischen Kritik als zu dünn abgelehnt wurde, wird ihm im Nachwort dieser Ausgabe »souveräne Erzählökonomie« bescheinigt. Ein unfreiwillig passendes Prädikat im Hinblick auf Lewis’ Kapitalismussatire.

Herbert Clyde Lewis. Gentleman über Bord. Roman. OT: Gentleman Overboard. Aus dem Amerikanischen von Klaus Bonn. Mit einem Nachwort von Jochen Schimmang. 176 Seiten. Erschienen am 14.3.23