In einem berührenden Portrait nähert sich Wolfgang Hermann seiner Mutter an –


Vor dreißig Jahren begann Wolfgang Hermann damit, das Leben seiner Mutter aufzuschreiben. Der österreichische Schriftsteller tat gut daran, die Notizen ruhen zu lassen und »Bildnis meiner Mutter« erst nach ihrem Tod fertig zu schreiben.

Alle Mütter sind ein Mysterium für ihre Kinder. »Später begreift man,« schreibt Hermann, »dass man von einem geheimnisvollen Menschen großgezogen wurde, dessen Persönlichkeit sich in unzähligen Facetten auffächert«. Das Bedürfnis sowohl diesem komplizierten Menschen, als auch dem eigenen künstlerischen Anspruch gerecht zu werden, ist eine schwierige Aufgabe, der man sich wohl am besten in reiferem Alter stellt.

Anneliese ist ein Vorarlberger Mädchen ihrer Zeit. Als Hitler 1938 einmarschiert, ist sie Teil des begeisterten Empfangs uns wird BDM-Mädel. Sie hat eine schöne Stimme, nimmt nach dem Krieg Gesangsunterricht und würde gerne Opernsängerin werden. Aber mit ihrem Ehemann trifft sie eine unglückliche Wahl und ihre künstlerischen Neigungen verschwinden für Jahrzehnte hinter Familie, Haushalt, Streit und Strenge.

Seinen Vater beschreibt Hermann als »Sozialdarwinist«, der für einen harten Lebenskampf ist, an den sich auch die Kinder früh gewöhnen sollen: »Wir wurden dazu erzogen, für die Zukunft zu leben.« Nicht die Fülle mache stark, sondern das Darben, propagiert der Vater. Er fühlt sich in seiner patriarchalen Vormachtstellung und seinem eigenen Bedürfnis nach Beachtung bedroht, je näher Mutter und Kinder zusammenrücken.

Gegen die Härte des Vaters setzt die Mutter ihre eigene Lebendigkeit und die der Natur. Das ganze Haus ist voller, auch exotischer, Pflanzen, und am Balkon gibt es die »unvermeidlichen Geranien«, wie sich Hermann erinnert.

Beim Betrachten alter Fotos fragt er sich, was wir alle schon einmal bei den alten Schwarz-Weiß Abzügen empfunden haben: »Wo ist die Wirklichkeit heute? Ruhend, zu Gestalt geronnen in jedem von uns.«

Hermanns Portrait seiner Mutter ist auch eines der Kriegskinder-Generation, die wir, als Kriegsenkel, lebenslang zu erlösen versuchen. Bisweilen geht dieses Bemühen über die Grenzen der eigenen Kraft hinaus und nimmt dem Leben die Energie. »Ich blieb als Jüngster zurück in einem kalten, erschöpften Haus, das niemand besuchte, in dem niemand zu Gast war«.

Anneliese waren aber gegen Ende noch »Jahre der Ernte« vergönnt, in denen sie ihr Leben aufschrieb und bereitwillig von sich erzählte. Zum Beispiel davon, dass sie nicht an gemeinsame Ehebetten glaubte.

Und als ob sich das Gedächtnis, das sich über Jahrzehnte mit Kindheitserinnerungen gequält hat, selbst ein Geschenk machen wollte, entsteht in »Bildnis meiner Mutter« letzten Endes ein versöhnlicher Eindruck: »Aber irgendwie, auf eine seltsame Weise, war doch noch alles gut geworden.«

Wolfgang Hermann, Bildnis meiner Mutter. Erzählung. 104 Seiten, Czernin Verlag, Wien, erschienen am 22. Februar 2023.

Österreich ist Gastland der Leipziger Buchmesse. Genial zur Vorbereitung der Podcast mit ausführlichen Interviews, die Katja Gasser führt: https://gastland-leipzig23.at/meaoiswiamia/